in Publikumsschwund

Zwangsvorstellungen?

Über das allmähliche, aber unübersehbare Verschwinden des Publikums – auch ohne Corona  

Gastbeitrag von Dr. Armin Klein. Der Artikel erschien zuerst in den Kulturpolitischen Mitteilungen IV/2022. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Armin Klein
Foto: Privat

Dr. Armin Klein war bis 2017 Professor für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement am Institut für Kulturmanagement an der PH Ludwigsburg und ist aktuell im Bereich der Fortbildung für Kulturmanager*innen sowie als Berater verschiedener Kultureinrichtungen tätig. 2012 erschien das Buch „Der Kulturinfarkt – Von Allem zu viel und überall das Gleiche“, das er gemeinsam mit Dieter Haselbach (Gastbeitrag in diesem Blog hier), Pius Knüsel und Stephan Opitz geschrieben hatte. 10 Jahre später erscheint vieles prophetisch, in der gleichen Ausgabe der KuPoGe-Mitteilungen würdigt Tobias J. Knoblich, Präsident der KuPoGe, das Buch als Streitschrift, die 2012 vielleicht noch zu polemisch war um gewürdigt werden zu können.

In den letzten Wochen konstatierte das deutsche Feuilleton mehr oder weniger überrascht und mit teilweise dramatischen Worten ein Phänomen, das sich schon seit längerer Zeit abgezeichnet hatte, in seiner ganzen Problematik allgemein bislang allerdings kaum wahrgenommen wurde: das allmähliche, aber unübersehbare Verschwinden des Publikums! »Unter der Bühne das Nichts!« (Hubert Spiegel in der FAZ), »Dem Theater fehlen die Zuschauer: Der Einbruch« (Peter Laudenbach und Egbert Tholl in der SZ), »Maue Ticketverkäufe. Viele Theaterchefs stehen plötzlich schlotternd wie nackt im Hemd da« (Wolfgang Höbel im SPIEGEL). An Dramatik mangelt es wahrhaftig nicht: Denn fehlt dem Theater das Publikum, so geht ihm auch die Legitimation verloren.

Wie in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen hat die Pandemie auch bei der Kultur zentrale Probleme offengelegt und scharf konturiert, die schon sehr viel länger vorhanden sind. Der Doyen der Managementlehre, Peter Drucker, hat schon vor Jahrzehnten den eigentlich banalen, in Wirklichkeit jedoch fundamentalen und häufig leider verdrängten Kernsatz formuliert: »Es gibt nur eine richtige Definition für den Zweck eines Unternehmens: Es muss einen Kunden finden.« Aus ästhetischer Sicht hat Umberto Eco in seinem » Offenen Kunstwerk« die Frage rezeptionsästhetisch gewendet und die herausragende Rolle des Publikums für die Existenz eines Kunstwerks hervorgehoben: Ein Buch das nicht gelesen wird, ein Musikwerk, das nicht gehört, ein Bild, das nicht betrachtet – und ein Theaterstück, das nicht gesehen wird, existieren nicht.

Gerade am Beispiel der öffentlichen Theater, in die nicht nur die meisten Öffentlichen Kulturfördermittel fließen, sondern deren ökonomischen Zahlen in der Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins auch recht gut dokumentiert sind, lässt sich das Problem des Kulturbetriebs in Deutschland am besten verfolgen. Auf der einen Seite gibt es den öffentlich getragenen bzw. finanzierten Theaterbetrieb mit seinen Staats- und Stadttheater sowie Landesbühnen, deren Ausgaben im bundesweiten Durchschnitt zu rund 82 Prozent mit öffentlichen Mitteln finanziert sind, nur rund 18 Prozent werden aus eigenen Erlösen (Eintritte, in sehr viel geringerem geringem Maße Sponsoring und Spenden) gedeckt. In der Summe kosten der Theater- und Musikbereich in Deutschland die Steuerzahler jährlich rund 4,7 Milliarden Euro (Zahlen von 2017 nach Kulturfinanzbericht 2020).

Dem steht eine breite und bunte Freie Theaterszene mit teilweise eigenen Häusern und Spielstätten gegenüber, die zwar mittlerweile auch öffentliche Mittel erhält, die aber in hohem Maße auf Eigeneinnahmen angewiesen ist, um ihre betriebswirtschaftliche Rechnung auszugleichen. Die hier fließenden öffentlichen Mittel machen einen Bruchteil dessen aus, was die öffentlichen Theater beanspruchen. Und schließlich gibt es kommerziell ausgerichtete Theater, insbesondere die Musicalbetriebe und private Boulevardtheater, die rund ein Drittel aller gezählten Besucherinnen und Besucher anziehen und meist ohne Öffentliche Mittel auskommen müssen. Für alle drei Bereiche stellt sich die Existenzfrage allerdings höchst unterschiedlich, d.h. sie sind in ganz unterschiedlichem Maße auf das Publikum angewiesen: Kommen die einen – zumindest finanziell – mehr oder weniger fast ohne dieses aus, bilden die Besucherinnen und Besucher für die anderen die wirtschaftliche Existenzgrundlage.

Das führte in der Pandemie zu Recht paradoxen, teilweise obszönen Konsequenzen. Am sichtbarsten war das Schließverhalten. Zu beobachten war, dass die öffentlich finanzierten Theater (von Ausnahmen abgesehen, die den Betrieb so lange wie möglich aufrechterhielten) höchst bereitwillig und frühzeitig Schließauflagen erfüllten, während vor allem die freie Szene – angewiesen auf die Einnahmen – so lange wie möglich den Spielbetrieb aufrechterhielt. Weniger sichtbar war die finanzielle Entwicklung. Während in den öffentlichen Theatern die Finanzmittel aufgrund der verabschiedeten Haushaltsgesetze weiter flossen, ohne dass über die fixen Kosten hinaus Ausgaben anfıelen, brachen die Einnahmen bei den Freien massiv ein. So gab der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Carsten Brosda, unumwunden zu, dass manche öffentlichen Theater in der Pandemie einen »Überschuss« erwirtschaftet haben!

Betrachtet man das Problem aus kulturpolitischer bzw. organisationstheoretischer Sicht, so haben wir auf der einen Seite eine übergroße Stabilität, auf der anderen eine mehr oder weniger prekäre, teilweise existenzgefährdende Situation. Natürlich will kein(e) Kunstschaffende(r) ohne Zuschauer auftreten, nichts ist deprimierender als ein leerer Theatersaal. Auf der anderen Seite können die einen mit dieser Konstellation zumindest ökonomisch einigermaßen leben (»50 Prozent ist das neue Ausverkauft!«), während es bei den anderen nicht selten an die nackte Existenz geht. Von den wirklich »freien Freien«, d.h. den zahlreichen sogenannten »soloselbständigen« Sängerinnen und Schauspielern, Musikerinnen, aber auch Beleuchtern und Technikerinnen, ohne die ein Theater- und Musikbetrieb überhaupt nicht aufrecht zu erhalten wäre und die die Pandemie am schlimmsten getroffen hat, war mangels Lobby bislang kaum die Rede.

Wie löste nun die Kulturpolitik bislang das Problem? Antwort: So, wie mittlerweile in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen: mit mehr Geld, Stichwort: Bazooka! Mehr oder weniger schnell wurden verschiedene Sondermittel vor allem vom Bund, aber auch den Ländern aktiviert, um die unmittelbare Not zu lindern. So verdienstvoll dies war und ist und so dankbar diese Mittel von den Kulturbetrieben entgegengenommen wurden, so löst diese »Strategie« doch nicht das durch die Pandemie deutlich gemachte Kernproblem: die Frage nach dem allmählichen Verschwinden des Publikums, das die Legitimitätsfrage in aller Schärfe stellt.

Diese Frage wird noch verschärft durch eine andere Entwicklung: Viele Theaterbauten, seien sie aus dem 19. oder 20. Jahrhundert, stehen vor riesigen baulichen Problemen, die nur durch grundlegende Sanierung bzw. Abriss und Neubau zu lösen sind. In Stuttgart und Karlsruhe, in München und Frankfurt/M. und anderswo stecken Projekte in der Planung, die sich der Milliarden Euro-Grenze nähern bzw. diese bereits überschritten haben. Für wen plant man diese Bauten, wie legitimiert man diese Ausgaben? Werden wir in absehbarer Zeit nach Industriebrachen, in die mittlerweile oft Kulturbetriebe eingezogen sind, sündhaft teure Kulturbrachen haben – mit welchen zukünftigen Nutzern?

Die letzten drei Jahrzehnte haben die Theater der absehbaren Entwicklung mit einer knallharten Lobbyarbeit, die jedem Industrieverband zur Ehre gereichen würde, mit der weitgehend argumentlosen Behauptung einer »Systemrelevanz« oder dem markigen Spruch »Theater muss sein!« erfolgreich getrotzt (Der theaterkluge Intendant Dieter Dorn hat seiner Zeit vorgeschlagen, das Wörtchen »gut« einzufügen – damit wäre der Appell an die Theater selbst gerichtet worden und nicht an die öffentlichen Geldgeber). Der geniale Kabarettist Karl Valentin warf schon vor hundert Jahren die Frage auf: »Woher die leeren Theater?« und antwortete scharfsinnig: »Nur durch das Ausbleiben des Publikums. Schuld daran – nur der Staat«.

Karl Valentin (rechts)
Quelle: Willy Pragher, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons

Und er hatte auch eine Lösung parat: »Warum wird kein Theaterzwang eingeführt? Wenn jeder Mensch in das Theater gehen muss, wird die Sache gleich anders. Warum ist der Schulzwang eingeführt? Kein Schüler würde die Schule besuchen, wenn er nicht müsste. Beim Theater, wenn es auch nicht leicht ist, würde sich das unschwer ebenfalls doch vielleicht auch einführen lassen. Der gute Wille und die Pflicht bringen alles zustande«. Konsequent nannte er seinen Text: »Zwangsvorstellungen «. Ob das die Lösung für die Zukunft sein kann? Bis dahin ist zu befürchten, dass die verlorenen Erträge durch Eintrittsgelder auch noch öffentlich finanziert werden, und sei es auf Kosten anderer Theaterformen.


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