
Wie die Nordseezeitung vor einigen Tagen berichtete, hat die Stadt Bremerhaven beschlossen, dass auch das Stadttheater sich an den Sparbemühungen der Stadt beteiligen muss. Das Jahresbudget soll auf Dauer um 600,000€ gesenkt werden (Budget zur Zeit: 18,5 Mio €). Bereits in der Spielzeit 2026/27 sollen 300.000€ eingespart werden, ab dann jährlich 600.000€.
Bei fixen Kosten von ca. 85% des Budgets gibt es noch keine Ideen, wie diese Sparvorgaben umgesetzt werden sollen. Auf dem Prüfstand stehen laut Intendant Lars Tietje sowohl die Anzahl der Premieren als auch die Anzahl der Vorstellungen. An den Sparten sollen keine Abstriche vorgenommen werden, weder Musiktheater (inkl. Orchester) noch Schauspiel, Ballett oder Kinder- und Jugendtheater stehen wohl zur Disposition.
Mehr Einnahmen durch neue Ticketingregeln?
Neu ab der kommenden Spielzeit (jedenfalls ist dieser Umstand bisher noch nicht aufgefallen): Wer Karten für Vorstellungen an der Kasse kauft und diese ausgedruckt mitnehmen möchte, zahlt für diesen Service eine Gebühr:
Sollten Tickets ausgedruckt mitgegeben werden müssen, fällt eine zusätzliche Gebühr in Höhe von 2,50 EUR an.
Umgangen werden kann das über eine Zustellung der Tickets per E-Mail. Eine Zeitersparnis im Verkauf wird das kaum bringen (einen Kunden im Ticketingsystem heraussuchen oder die Taste „Drucken“ drücken werden einen ähnlichen Zeitaufwand beanspruchen). Die nicht eingesetzten Rohlinge für die Tickets werden hier auch zu keiner großen Kostenersparnis führen. Und im Zweifel trifft es die, die nicht Online buchen können: die nicht Online-affinen. Und wer im Vorverkauf bestellt, zahlt 10% Vorverkaufsgebühr, auch das eher ungewöhnlich, erheben Vorverkaufsgebühren sonst eher Plattformen wie Eventim oder Nordwestticket als Service für ihre Verkaufsleistungen. Da nicht bekannt ist, wie viele Tickets Online und wie viele per Vorbestellung (+ 10% Vorverkaufsgebühr) oder an der Abendkasse (+ €2,50 bei Ausdruck) ist keine seriöse Simulation des Erlöses möglich.
Entwicklung der Besuchszahlen
Die Besuchszahlen in Bremerhaven hatten die Zahlen vor Corona bis 2022/23 noch nicht erreicht, wie vor einiger Zeit in diesem Blog berichtet (offiziell liegen erst die Zahlen bis 2022/23 vor):

Die Besuchszahl für 2022/23 stammt aus der aktuellen Theaterstatistik des Bühnenvereins, die 2025 veröffentlicht wurde. Die nächste Theaterstatistik mit den Zahlen für die Spielzeit 2023/24 wird erst 2026 erscheinen. Auf der Suche nach aktuelleren Zahlen findet man dann aber eine Anfrage der CDU-Stadtverordneten Torsten Raschen und Thomas Ventzke an die Verwaltung. In der Antwort auf diese Anfrage werden die Zahlen für 2018/19 und 2023/24 gegenübergestellt.

Komplett erfasst und aufsummiert ergeben die Angaben in diesem Dokument:

Interessanterweise weichen die hier angegebenen Zahlen für 2018/19 um fast -15.000 Besuche von den an den Bühnenverein gemeldeten Zahlen ab. Die Zahlen der Verwaltung werden auch nur pro Sparte dargestellt, abweichend von der Nomenklatur der gemeldeten Zahlen an den Bühnenverein (Quelle s.u.). Und es fehlt die Summenbildung.
Ich habe daher meine o.a. Grafik ergänzt um die Besuchszahl von 2023/24 und gleichzeitig die Zahl für 2018/19 ersetzt durch die niedrigere Besuchszahl von 107.157 der Verwaltung. Und zusätzlich habe ich den Bezug geändert: Die Prozentzahl zeigt jetzt nicht mehr den Bezug zur dargestellten Vorperiode, sondern den Bezug zu 1966/67, der ersten vollständigen Theaterstatistik mit Besuchszahlen für einzelne Städte.

In Bremerhaven haben sich die Zahlen mehr als halbiert um 55,78%. Der größte Einbruch erfolgte um 2000/01. Die Gründe für Besucherschwund sind vielfältig, das Theater in Bremerhaven ist nicht das einzige Haus, das davon betroffen ist (s. zahlreiche Beiträge in diesem Blog und mein Buch „Publikumsschwund?“.
Nur zur Erinnerung: Peter Grisebach war Intendant von 1994/95 bis 2010/11, danach folgte Ulrich Mokrusch bis 2021/22, auf ihn folgte Lars Tiedje.
Die Corona-Jahre haben viele Einrichtungen gebeutelt, 2023/24 ist aber nach allgemeiner Einschätzung die erste vollständige Nach-Corona-Spielzeit, trotzdem liegt die Zahl 12% unter der Vorsaison.
Mehr Zuschauer?
Die Differenz von 2023/24 zu 2018/19 ergibt fehlende Besuche in Höhe von 26.200. Bei einem angenommenen Durchschnittspreis von 25€ könnte das bei einer Wiedergewinnung eine zusätzliche Einnahme von 655.500€ schaffen, deutlich mehr als die angekündigte Kürzung von 600.000€ ab 2027/28.
Ist der Elefant im Raum die Kunst? Das müssen andere evaluieren.
Andere Möglichkeiten?
Es gebe bei weiter abnehmenden Besuchszahlen ja immer noch eine ganz andere Option.
Prof. Dieter Haselbach, Co-Autor des Buches „Der Kulturinfarkt“ (2012) schrieb 2017 auf nachtkritik.de unter der Überschrift „Beharrungskräfte und institutioneller Wandel“ über mögliche Systemwechsel:
Bei Beharrungskräften im System sprechen Sozialwissenschaftler von Pfadabhängigkeit. Aus einmal getroffenen Strukturentscheidungen erwachsen Folgen, die die anfangs getroffene Entscheidung stabilisieren. Solche Pfadabhängigkeit entsteht im Theater zweimal. Zum einen unterliegt ein Großteil des Personals den Beschäftigungsbedingungen des öffentlichen Dienstes. Es ist fast nicht kündbar oder anderweitig einsetzbar. Wohin mit dem Orchestermusiker mit noch 18 Jahren bis zur Pensionierung? Zum anderen: Es gibt für die Bespielung der Häuser nicht genügend Anbieter, aus denen sich ein gutes Programm zusammenstellen lässt. Ein solches Angebot wird aber nur entstehen, wenn die entsprechende Nachfrage zu erwarten ist. Dem Angebot fehlt die Nachfrage, der Nachfrage das Angebot. So bleibt das System im Status Quo gefangen.
Bleibt also alles wie es ist? Auch hier gibt die Theorie der Pfadabhängigkeit ein Denkmuster. An Kreuzungspunkten, dort also, wo viele Pfade zusammenkommen, ist es wohl möglich, den Pfad zu wechseln. Hat man keine Landkarte, mag der Pfadwechsel chaotisch geraten. Aber man kann auf einen anderen Pfad kommen.
Nah an der Wege-Gabelung
Einige Städte sind in der politischen Auseinandersetzung über die Finanzierung ihrer Theater in den letzten Jahren einem solchen Kreuzungspunkt recht nahe gekommen. Wo Einsparvorgaben, die sich aus allgemeinen Zwängen zur Haushaltsgestaltung ergaben, in einer Kürzung resultierten, die im Rahmen der Produktionsweise eines Ensembletheaters sich weder erfüllen noch unterlaufen ließen, wäre zumindest für das betroffene Theater ein Systemwechsel zu vollziehen oder das Theater zu schließen
Interessanterweise wurde gerade in diesen Tagen die Präsidentin der INTHEGA, der Interessengemeinschaft von Theatern mit Gastspielen, in ihrem Amt bestätigt: Dorothea Starke. Sie ist die Leiterin des Kulturamtes der Stadt Bremerhaven. Und Bernward Tuchmann, Geschäftsführer der INTHEGA, ist Co-Vorsitzender der Gruppe außerordentlicher Mitglieder im Deutschen Bühnenverein. Ein Zeichen?
Quellen:
Im Stadttheater Bremerhaven kommt alles auf den Prüfstand, Nordsee-Zeitung, 20.6.2025 (Paywall)
Besucherzahlen und Einnahmen des Stadttheaters Bremerhaven, Antwort des Kulturdezernenten Frost auf eine Anfrage der CDU im Stadtrat Bremerhaven (PDF, Datum unbekannt, aber in 2024)
Stadttheater Bremerhaven: AGB
Präsidentin wiedergewählt, Meldung der Stadt Bremerhaven, 2.7.2025
Stadttheater Bremerhaven, Wikipedia
Prof. Dr. Dieter Haselbach: Beharrungskräfte und institutioneller Wandel, nachtkritik.de, 17.1.2017
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