
Foto: Rainer Glaap
Von Willem Wijgers
Gastbeitrag mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zuerst erschienen in den Kulturpolitischen Mitteilungen IV/2022

Willem Wijgers ist Marktforscher im kulturellen Bereich in den Niederlanden und in Deutschland. Er leitet EMC Cultuuronderzoeken (seit 2010) und EMC Kultur und Marketing (seit 2015), beide mit Sitz in Detmold (NRW). Seine Website https://www.kulturundmarketing.de/ wird demnächst auch auf Deutsch verfügbar sein.
In ihrem »Plädoyer für eine starke Kulturstatistik« (Presseerklärung vom 23.05.2022) wirbt die Kulturpolitische Gesellschaft um »mehr steuerungsrelevante Daten für eine konzeptbasierte Kulturpolitik«. Davon abgesehen, dass unklar bleibt, was unter »steuerungsrelevant« und »konzeptbasiert « konkret verstanden werden soll, setzt dieses Plädoyer einiges voraus: Es braucht Daten, die von den einzelnen Kultureinrichtungen gesammelt werden müssen, auf eine Art und Weise, die eine aussagekräftige Kulturstatistik und damit effektive Kulturpolitik ermöglichen. Dazu braucht es in den Kultureinrichtungen Führungskräfte und Mitarbeiter*innen, die verstehen, was die Bedeutung dieser Daten ist, die bereit und dazu ausgebildet sind, diese Daten zu sammeln, ihre Qualität zu gewährleisten bzw. regelmäßig zu überprüfen und auch (und aus meiner Sicht in erster Linie) dazu fähig und in der Lage sind, diese zum Zweck der eigenen Organisation auszuwerten.
Es braucht zudem Fachleute, die die gewonnenen Daten in neue oder alternative Marketing- oder programmgestützte Konzepte, Projekte oder Kampagnen umsetzen und zudem auch noch bereit sind, diese Daten einer zentralen nationalen Stelle zu statistischen bzw. kulturpolitischen Zwecken bereitzustellen. Da es aus meiner Wahrnehmung diese Voraussetzungen im deutschen Kulturbetrieb nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt, gibt, macht der Ruf nach einer gesetzlichen Grundlage, wie die Kulturpolitische Gesellschaft sie gerne sähe, für eine periodisch stattfindende Datenerhebung wenig Sinn, wenn grundlegende Bedingungen zum Datensammeln bei den einzelnen Kultureinrichtungen nicht erfüllt sind.
Sowohl in dem oben erwähnten Plädoyer als auch in einem von Ulrike Blumenreich zu diesem Thema verfassten Artikel[1] wird aus meiner Sicht dabei den »Elefanten im Zimmer« immer wieder aus dem Weg gegangen. Es sind die Kultureinrichtungen selbst, denen die immense Bedeutung von Daten erst einmal bewusst werden sollte, bevor wir über Statistik und Politik reden.
Seit ich 2015 aus den Niederlanden nach Deutschland umgezogen bin, habe ich – zuerst mit Erstaunen, aber später mit wachsender Irritation – beobachtet, wieviel Energie und öffentliche Mittel in den deutschen Kulturbetrieb investiert werden, ohne dass man weiß, ob diese auch in messbaren Ergebnissen (erreichte Zielgruppen, Besucherzahlen) umgesetzt werden. Es werden zwar – mühselig und mit Verweis auf diverse Datenschutzbestimmungen – Daten erhoben, aber ohne jegliche Strategie oder ein konkretes, umsetzbares Ziel.
Meine These lautet, dass ein Kulturbereich ohne (Publikums-)Daten nur im Dunkeln stochert, solange er sich keine faktische und datenbasierte Rechenschaft darüber ablegt, was sich wirklich in seinen Räumlichkeiten und in der Welt drum herum abspielt. Auch die vielen Bemühungen des Kulturbereichs, sich mit Diversität und Inklusion auseinanderzusetzen, schlagen fehl, wenn es keine Einsicht in die Zusammensetzung des heutigen Publikums oder der Bevölkerung vor Ort (z.B. eines Einzugsgebiets) und in ihre Motivationen bzw. Barrieren zur Kulturteilnahme gibt. Von daher würde ich gerne das von der KuPoGe veröffentlichte Plädoyer um ein zweites ergänzen, welches den Kulturbereich dazu auffordert, seine eigenen Aufgaben in dem Bereich des Datensammelns ernster zu nehmen und selbst einen größeren Beitrag zu einer Kulturstatistik zu leisten. Das hilft ihm nämlich vor allem, die eigene Position in der Gesellschaft und in der politischen Arena besser darzustellen und zu verteidigen.

Kultureinrichtungen müssen motiviert werden, ihre Publikumsdaten besser, regelmäßiger und einheitlicher zu sammeln, als sie es bisher gewöhnt waren. Ihnen muss als erstes ihre Angst vor Daten genommen werden. Neulich berichtete mir eine im Kulturbereich tätige Führungskraft, dass Kultureinrichtungen keine Publikumsdaten sammeln und auswerten (lassen) wollen, weil sie befürchten, dass die Ergebnisse der Auswertung ihre bisher verfolgte Politik kompromittieren könnten und sie sich damit der Kritik der kommunalen Kulturverwaltung aussetzen würden. Auch Konkurrenz (mit anderen Kultureinrichtungen) ist oft ein Grund dafür, dass man sich diese Art von Evaluation nicht zutraut. Es gibt also noch vieles zu tun, bevor eine zuverlässige Kulturstatistik ihren Beitrag zu einer konzeptionellen Entwicklung und zukünftigen Ausgestaltung der Kulturpolitik leisten kann.
Im Rahmen einer internationalen Bestandsaufnahme zum Thema »Datensammeln, Auswerten und Anwenden im Kulturbereich«, die mein Büro 2020 für das niederländische Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft durchgeführt hat, wurde festgestellt, dass es – positiv formuliert – in den meisten europäischen Ländern noch sehr viel Entwicklungspotenzial gibt. Ich habe selbst den Werdegang der (Publikums-) Datensammlung im niederländischen Theaterbereich in den vergangenen zehn Jahren verfolgt, wo mittlerweile die meisten Theater, Konzertsäle, Orchester, Tanzgruppen und Theaterensembles ihre Publikums-, Produktions-, Aufführungs- und Verkaufsdaten in eine zentrale Datenbank einspeisen. Sie erhalten so qualitativ hochwertige Informationen, die nicht nur statistisch, sondern vor allem auch politisch von Wert sind. Diese Daten werden benutzt, um öffentlich Rechenschaft abzulegen über die Aktivitäten des Kulturbereichs und um auf Engpässe und Rückstände aufmerksam zu machen. Finanziert werden die entsprechenden Maßnahmen größerenteils über die von den Dachverbänden erhobenen Mitgliedsbeiträge, aber auch das niederländische Kulturministerium ist als Förderer mit im Boot.
Deutsche Dachverbände im Kulturbereich können und sollten hier aus meiner Sicht eine bedeutend wichtigere Rolle spielen als bisher, indem sie ihre Mitglieder für eine strukturelle Erhebung, Auswertung und Umsetzung von (Publikums-) Daten begeistern. Die alljährliche Veröffentlichung einer Museums- oder Theaterstatistik reicht zu einer Verfestigung der eigenen politischen und gesellschaftlichen Position bei weitem nicht aus.
(Publikums-) Daten im Kulturbereich sind aus mehreren Gründen wichtig:
- Sie unterstützen kurz- und langfristige Entscheidungen.
- Sie stellen Behauptungen und »universellen Wahrheiten« infrage.
- Sie verstärken die Position des Kulturbereichs in der politischen Arena.
- Sie helfen beim Ermessen der Wirkungen von Kulturpolitik oder Marketingkampagnen.
- Sie ermöglichen zielführende Maßnahmen mit Blick auf Inklusion und Diversität.
Fazit
Nicht nur eine »top down«-, auch ein »bottom up«-Bewegung muss im deutschen Kulturbetrieb angeregt werden, um eine wirkungsvolle Kulturstatistik zu ermöglichen. Dazu braucht es öffentliche Unterstützung für den Ankauf von Erfassungssystemen und die Entwicklung einheitlicher Methoden und Standards. Datenschutz ist keine Entschuldigung dafür, keine Daten zu verwenden: Ein »berechtigtes Interesse« erlaubt Datenerhebung, -auswertung und -anwendung[2]. Kulturstatistik soll kein Rückspiegel sein, sondern ein Fernrohr, das auch von Kultureinrichtungen ohne Angst benutzt wird um herauszufinden, in welcher Richtung sie sich weiterentwickeln müssen. Schließlich: If you don’t know where you are going, you will probably end up somewhere else.[3]
[1] Ulrike Blumenreich: Aktuelle Herausforderung der Kulturpolitikforschung im Bereich Kulturstatistik – Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 175 (1V/2021), S.79-81
[2] Erwägungen 47, 48, 49 und Artikel 6 der EU-Datenschutzgrundverordnung: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=CELEX:32016R0679 (gesichtet 12.08.2022)
[3] Laurence Peter, 1977
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