in Theaterlexikon

Publikum (Stichwort im Theaterlexikon von 1841)

Die Gesammtheit einer gemischten aber zu demselben Zwecke verbundenen Menschenmenge, z. B. das lesende P. – das Theaterpublikum. – Es scheint zur zweiten Natur der Menschen geworden zu sein, bei jedem öffentlich ausgestelltem Kunstwerke nicht vorbei gehen zu können, ohne darüber ein Urtheil zu fällen, u. der Künstler muß sein Werk, indem er es öffentlich ausstellt, dem Urtheile der Vorübergehenden unterwerfen. Wäre es dem Künstler von jeher gleichgültig gewesen, Beifall od. Tadel zu erhalten, nie würde sich die Kunst zu irgendeinem Grade der Vollkommenheit haben erheben können. – Gewöhnlich besitzen die besten Künstler auch den meisten Ehrgeiz, und es ist sehr zu bezweifeln, ob mancher Schauspieler seine beschwerliche Laufbahn nicht längst verlassen haben würde, wenn ihm die Hoffnung auf Ruhm benommen wäre. Dieser Ruhm des Augenblicks ist sein einziger u. größter Lohn, warum sollte er darnach nicht geizen? Wie schön und wahr spricht unser großer Schiller den Gedanken aus:

Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze,
Drum muß er geizen mit der Gegenwart.

Nichts kann also für den guten Schauspieler aufmunternder u. belehrender sein, als der verdiente öffentliche Beifall.

Denn wer den Besten seiner Zeit genug gethan,
Der hat gelebt für alle Zeiten.

Der größte Theil des Publikums besitzt nun aber weder den richtigen Geschmack, noch die erforderlichen Kenntnisse unserer Kunst, um die Leistungen derselben beurtheilen zu können (vgl. Kritik) . (Hervorhebung vom Autor des Blogs)

Das tonangebende Publikum ist in der Regel das Parterre besuchende, vielleicht weil die meisten Männer dort zusammentreffen, vielleicht weil es der Zuschauerplatz ist, wo man sich am leichtesten trifft und so einigermaßen Leute von Ansprüchen an Geschmack sich zusammenfinden, kurz das Parterre führt fast allenthalben die entscheidende Stimme, daher auch der Name Parterre sehr häufig für Publikum gebraucht wird. Vielleicht ist dieses moralische Parterre bei dem Volke entstanden, das ihm den Namen gegeben, wenigstens macht es sich in Paris am meisten geltend, und wird diese Vermuthung durch einen Artikel der französischen Encyklopädie bekräftigt, wo es unter Parterre heißt: „On apelle aussi parterre la collection des spectateurs, qui ont leurs places dans le parterre; c’est lui qui decide du mérite des pièces. “ [Dt: „Die Ansammlung der Zuschauer, die im Parkett ihre Plätze haben, wird auch Parterre genannt; dieses Parterre entscheidet über die Qualität der Stücke.“]

Das moralische Parterre ist aber auch öffentlich als Repräsentant des Publikums einer Stadt anerkannt, u. von der Art u. Weise, wie es sein Richteramt ausübt, ob es den Ton trifft, ob es mit richtigem Tact verfährt, wollen wir nicht immer erwarten, aber doch meistens, daß davon der Credit des Publikums abhängt. Herrscht Ordnung u. gesittetes Betragen im Parterre, so theilt sich dies unwillkührlich dem ganzen Hause mit, weil das Parterre unbestrittendasselbe beherrscht, und man beweist durch diese feine Lebensart eine Achtung für die Kunst, welche den Schauspieler, wie die Zuschauer selbst, gleich ehrt und erhebt, und sogar im Stande ist, einer Bühne mehr oder weniger Credit zu verschaffen, sie hoch zu stellen od. herabzuziehen in den Augen der Welt.

Welchen Begriff muß sich ein Fremder von der Bildung eines Publikums, von dem Standpuncte der Kunst und der Künstler machen, wenn er sieht, daß das Schauspielhaus der Sammelplatz abgeredeter Complotte ist? Wenn er, selbst da sich zu erbauen, zu erheben, nicht dazu kommen kann, weil die Comödie im Parterre die Tragödie auf der Bühne übertäubt? Wenn er mit Menschen zusammentrifft, denen er sofort anmerkt, daß sie in’s Theater gingen aus Langeweile, in der Hoffnung, dort einen ebenso müßigen Nachbar zu finden, mit dem sie die Zeit verplaudern können? Und was ist solcher Orte von des Schauspielers Ernst und Streben zu erwarten, den ein Publikum auf diese Weise lange stumpf und gleichgültig gemacht hat und der da oben seine Rolle herbetet, in der Absicht, fertig zu werden u. des Frohndienstes ums tägliche Brod entlassen zu sein! Das ist abermals ein Capitel, in dessen Betrachtung wir uns weit verlieren könnten, ohne es hinlänglich zu erschöpfen. Das Parterre, sagt ein alter Dramaturg, sollte immer mit dem Anstande eines Mannes erscheinen, der bei Entscheidung einer Sache mit seiner Stimme den Ausschlag geben muß; – die Logen werden ihm nicht leicht in dies verjährte Recht eingreifen, u. die Gallerie? Entweder sie schweigt, bellt dem Parterre nach, od. ihr Beifall ist nicht in Anschlag zu bringen, so lange das Parterre schweigt.

Man könnte sich des Beifalls der Gallerie zur Besserung der Schauspieler bedienen, wenn man von da herab applaudirte, während das Parterre sich stille verhielte, wäre dies Lob nicht Ironie, nicht beißender Tadel?

So fürchtet man sich, gegenwärtig von gewissen Recensenten gelobt zu werden, so ist es eine Schmeichelei, in gewissen Zeitungen gar nie erwähnt oder wenigstens getadelt zu werden! – Wie selten aber treffen wir ein Publikum, oder dessen Repräsentant, ein Parterre, welches sich des Rechtes öffentlicher Be- u. Verurtheilung mit dem Anstande eines einsichtsvollen Richters bedient. Fast überall artet es in Mißbräuche aus, fast überall wird es ein Raub der Cabale, Parteilichkeit und jugendlicher Leidenschaften. Anstatt daß man sein Mißfallen an dem Spiele durch tiefes Stillschweigen zu verstehen geben sollte, hat man die Geißeln des Pfeifens u. Pochens erfunden (s. Auspfeifen). Wir glauben nicht, daß durch diese Mittel je ein Schauspieler gebessert worden ist, und wen dies Schicksal einmal getroffen, der kam das nächste Mal, voll Furcht, sich dieser Begegnung noch einmal auszusetzen, gewiß verschlimmerter auf die Bühne, abgesehen von dem Schaden, den man guten Schauspielern zufügt, wenn Cabale ihnen ein ähnliches Schicksal bereitet. Ebenso ist der übertrieben werthlose Beifall, die zur Gewohnheit werdende Auszeichnung verderblich.

[Text ohne Fußnoten]

Mehr zum Theaterlexikon von 1841 und seiner Bearbeitung hier.


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