
Quelle: keriluamox, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons
Dies ist ein rein anekdotischer Bericht von meinem persönlichen Konzertbesuch am 16.6.2023 in einem Bremer Kino. In anderen Kinos kann die Lage ganz anders gewesen sein.
Dirigent: der 87 Jahre alte Zubin Mehta, Solist für das Bartok Piano-Konzert war Yefim Bronfman.
Disclaimer: Ich habe keine Karte gekauft (20€), sondern hatte vor Wochen über eine Verlosung Karten gewonnen für das Cinestar Kino im Einkaufszentrum Weserpark am Stadtrand von Bremen.
Hier die Ankündigung von der Website der Berliner Philharmoniker (nicht mehr sichtbar, da der Termin abgelaufen ist):

Das Konzert wurde in Berlin 2x an aufeinanderfolgenden Tagen gespielt, beide Konzerte in der Berliner Philharmonie waren ausverkauft. Die Kinoübertragung fand nur am ersten Abend statt.
Das Konzert wurde Live übertragen in Dutzende von Kinos in Europa und über die Digital Concert Hall.
Das Cinestar umfasst 11 Säle, das Konzert wurde in Saal 9 übertragen.
Das Publikum: 12 Leute, davon min. 3 mit Freikarten (an der Kasse lag eine Liste mit 2 markierten Zeilen/Namen. Da ich alleine dort war, gehe ich von 3 Freikarten aus. Umsatz = 9×20€ = 180€.

Die gesperrten Plätze in der 2. Reihe waren nicht besetzt. Den Platz in grün hatte ich selbst angeklickt um die Preisinformation zu bekommen.
Dies ist bereits mein zweiter Versuch, einen Konzertabend im Kino zu genießen. Der erste Versuch fand vor vielen Jahren statt anlässlich einer Übertragung der Johannes-Passion, ebenfalls mit den Berliner Philharmonikern, damals unter der Leitung von Sir Simon Rattle und in der szenischen Regie von Peter Sellars. Damals war das Kino voller, der Abend war künstlerisch ein voller Erfolg, das Kinoerlebnis ließ zu wünschen übrig: es waren relativ voll im Kino und in meiner Nähe saß eine junge Frau, die mit großem Genuß und laut knuspernd Chips mit Käsesauce ass. Andere Zuschauer:innen aßen Popcorn. Ich fand beides dem Inhalt des Konzerts äußerst unangemessen. Insofern fand ich es auch beim aktuellen Konzert unangemessen, als Sarah Willis in der Pausenmoderation die Zuschauer:innen an den Bildschirmen in aller Welt aufforderte, sich Popcorn zu holen (allerdings in Bremen ohne Widerhall im Publikum).
NB: In der Berliner Philharmonie wäre es NIEMALS möglich, Popcorn oder Chips mit Käsesauce zu essen.
Die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker ist seit über einem Jahrzehnt dafür bekannt u.a. dafür, dass Bild und Ton optimal aufgezeichnet werden. Im Saal gibt es jede Menge Kameras, die per Fernsteuerung bedient werden. Über die Partitur werden präzise die Solisten und der Dirigent taktgenau angesteuert. Das ist schon sehr beeindruckend, man kommt den Musikern natürlich sehr viel näher, als wenn man sie aus Reihe 20 auf dem Podium sieht. Auf der anderen Seite fällt sehr genau auf: ein sehr weißes Orchester, nicht besonders divers, keine BiPocs (wie anders waren da die Musiker:innen im Film Divertimento (gerade in den Kinos angelaufen), die aus den Pariser Banlieus kommen und die Vielfalt der französischen Gesellschaft zeigen).
Vor dem Konzert gibt es eine Einführung und Kurzporträts der Künstler, sehr sympathisch präsentiert von Sarah Willis, Mitglied des Ensembles (an diesem Abend nicht auf dem Podium).
Auf dem Programm stehen:
- Genoveva Ouvertüre von Schumann
- Bartoks Konzert für Klavier und Orchester sowie
- Tschaikowskys Symphonie #4 f-Moll
Musikalisch ist das auf höchstem Niveau, es ist eine Lust, den Musiker:innen zuzuschauen und zuzuhören. Zubin Mehta ist zwar mit 87 Jahren schon etwas gebrechlich und geht langsam am Stock zum Pult, sitzt auch während des Dirigats, ist aber offensichtlich voll konzentriert. Bewundernswert. Die Zusammenarbeit mit dem Orchester (bisher 200x, erstmals 1961 mit 25 Jahren) ist offensichtlich von großer Harmonie geprägt. Yefim Bronfman hat 1983 (also auch schon vor 40 Jahren) an der Philharmonie debütiert, Dirigent damals war: Zubin Metha.
Einzig störend: Insbesondere während der piano- und pianissimo-Stellen hört man unentwegt von links und rechts das Gewummere der Bässe in den benachbarten Kinos: links läuft Transformers und rechts Spiderman (ich hatte mich erkundigt). Wer sich da noch mal über das Gerumpel vorbeifahrender Straßenbahnen in der Bremer Glocke aufregt, war noch nicht in einem Konzert im Kino…
War das nun ein besonderes Erlebnis? Und wäre mir das in Zukunft 20€ Eintritt wert? Eher nicht.
Es wäre allerdings in meinem Smart -TV mit der App der Digital Concert Hall mit der angeschlossenen Anlage das gleiche Erlebnis ohne störende Geräusche aus den Kinos nebenan gewesen und ich hätte mir die halbe Stunde Fahrt an den Stadtrand erspart, aber: Der Konzertbesuch im Konzertsall ist für mich einfach durch nichts zu ersetzen!
Man kann sich auch Fragen: warum läuft eine solche hochkulturelle Veranstaltung in einer Kinokette am Stadtrand statt in einem Arthouse-Kinos in der Stadt, wo das Publikum sehr viel affiner zur Klassik wäre (dort gibt es ja auch regelmäßig Opern-Live-Übertragungen aus der Met oder der Royal Opera London z.B.). Über die Gründe der niedrigen Besuchszahlen lässt sich nur spekulieren: ist es der Sommer (ich hörte, die Silvesterkonzerte seien bestens besucht), der Stadtrand, das Umfeld?
Hintergrund: Leider veröffentlicht die Digital Concert Hall keine Besuchs- und auch keine Abo-Zahlen, sodass über den Erfolg in anderen Städten oder gar weltweit nicht wirklich berichtet werden kann. Zuletzt wurden 2022 Prozentzahlen der weltweiten Zuschauerverteilung genannt in einem Buchbeitrag über die digitale Transformation bei den Berliner Philharmonikern:
“Die Adressaten des digitalen Marketings sind auf der ganzen Welt verteilt. Lediglich 20 % der DCH-Nutzer kommen aus Deutschland, 15 % der Nutzer verteilen sich jeweils auf Japan und die USA, 50 % auf den Rest der Welt (185 Länder).”
Was ich mir aber grundsätzlich für Konzerte wünschen würde: mehr Ansagen, mehr Gespräche, Kameras mit Übertragung im Saal, so dass man z.B. den Dirigenten/die Dirigentin bei der Arbeit von vorne sehen kann und näher an den Künstler:innen dran wäre …
Quelle: Digitale Transformation bei den Berliner Philharmonikern, in: Digitale Transformation, Springer, 2022 (Open Access)
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