
Kurt Eichler hat in den Kulturpolitischen Mitteilungen III/2024 (Verbandsorgan der Kulturpolitischen Gesellschaft) eine Rezension meines Buches „Publikumsschwund?“ veröffentlicht.
In der Einleitung benennt er klar die kulturpolitische Dimension des Publikumsschwunds:
Insider der Kulturpolitik kennen das Problem seit langem, Besucher und Besucherinnen nehmen es unmittelbar wahr und selbst Theaterleitungen größerer Häuser identifizieren es als ihre größte Herausforderung: das fehlende Publikum. Dieser Befund drückt nicht nur ein Teilhabeproblem aus und kratzt am Selbstverständnis der Bühnen als gesellschaftlich relevante Institutionen. Er hat auch unmittelbare Folgen für den Umfang der Theaterförderung durch Kommunen und Länder. Noch dringlicher aber stellt sich die Legitimationsfrage, wenn ein Gut öffentlich finanzierter Daseinsvorsorge augenscheinlich eine immer geringere Nachfrage erfährt. Rainer Glaap geht diesem Publikumsschwund umfassend und detailliert nach.
Auch die Tatsache, dass die Theaterstatistik gerne pars pro toto genommen wird – und das damit große Teile des Bühnenlebens in Deutschland ignoriert werden, nimmt er auf:
Sie berücksichtigt nicht das Theaterangebot in Städten mit Gastspielbetrieb [Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen – INTHEGA, RG], kommerzielle Veranstalter oder freie Gruppen. Hier gibt es bisher nur unzureichend valides Zahlenmaterial, was dem Nachholbedarf in der Kulturstatistik und Kulturforschung in Deutschland insgesamt geschuldet ist.
Das Buch sei komplex, da es um Daten, Datenvergleiche und Kennzahlen gehe, die aber in einer Vielzahl von Tabellen und Abbildungen erläutert und illustriert werden.
Armin Klein war lange Zeit Mitglied des Vorstands der Kulturpolitischen Gesellschaft, deshalb freut mich der letzte Absatz der Rezension besonders:
Rainer Glaap widmet sein Buch dem verstorbenen Armin Klein, Hochschulprofessor und Mitautor des »Kulturinfarkt«, der noch ein lesenswertes Geleitwort beisteuern konnte. »Publikumsschwund« ist daran anschlussfähig und ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit grundlegender kulturpolitischer Transformationen.
Quelle: Kulturpolitische Mitteilungen III/2024, Print. Die Erlaubnis zum Abdruck des vollständigen Textes wurde freundlicherweise von der Redaktion erteilt.
Hinweis: Rainer Glaap ist seit vielen Jahren Mitglied der Kulturpolitischen Gesellschaft.
Der vollständige Text der Rezension:
Insider der Kulturpolitik kennen das Problem seit langem, Besucher und Besucherinnen nehmen es unmittelbar wahr und selbst Theaterleitungen
größerer Häuser identifizieren es als ihre größte Herausforderung: das fehlende Publikum. Dieser Befund drückt nicht nur ein Teilhabeproblem aus und kratzt am Selbstverständnis der Bühnen als gesellschaftlich relevante Institutionen. Er hat auch unmittelbare Folgen für den Umfang der Theaterförderung durch Kommunen und Länder. Noch dringlicher aber stellt sich die Legitimationsfrage, wenn ein Gut öffentlich finanzierter Daseinsvorsorge augenscheinlich eine immer geringere Nachfrage erfährt.
Rainer Glaap geht diesem Publikumsschwund umfassend und detailliert nach. Als Hauptquelle dient ihm die jährliche Theaterstatistik, die vom Deutschen Bühnenverein bearbeitet und herausgegeben wird. Ein besonderes Verdienst des Autors ist die gemeinsame Darstellung der Theater- und Konzertbesuche
in der BRD und der DDR und deren durchgängige Analyse von der Spielzeit 1951/52 bis 2018/19 mit einer zusätzlichen Zäsur in der Spielzeit 1990/91, dem Jahr der Wiedervereinigung. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Der Rückgang des Theaterpublikums seit den sechziger Jahren ist ein gesamtdeutsches Phänomen. Auch nach der Wiedervereinigung setzte sich dieser Abwärtstrend fort.
Seit einem Höchststand in den fünfziger Jahren (37,1 Mio.) sanken die Besuchszahlen der öffentlichen Theater bis 2018/19 (18,6 Mio.) insgesamt um die Hälfte, bei der Oper um 50 Prozent, bei Operette und Musical um 75 Prozent und im Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater um 42 Prozent. Die Scherenbewegung zwischen Publikumsrückgang und stetig steigendem Betriebsaufwand u.a. durch Erhöhung der Zahl der Spielstätten und der Veranstaltungen führte zu einem kontinuierlichen Anwachsen des Zuschussbedarfs aus öffentlichen Kassen, der zuletzt durchschnittlich bei 156,57 Euro pro Besuch lag. Dies entspricht einer Erhöhung um 920 Prozent seit 1956/57.
Das Werk beginnt mit einer kurzen Geschichte der Theaterstatistik und gibt – neben den ausführlichen Publikumsanalysen – vergleichende Auskunft zu weiteren Faktoren des deutschen Theaterbetriebs: zum Personal
der Bühnen und seinem Status, den Einspielergebnissen, den Betriebszuschüssen oder dem Kartenvertrieb. Betriebswirtschaftliche Kennzahlen werden erläutert und erlauben Rückschlüsse auf die Leistungsfähigkeit der Bühnen. Auch die Werkstatistik der Theater wird einem kritischen Blick unterzogen. Es schließt mit Überlegungen für alternative Betriebs- und Vertriebsmodelle für Theater, um Publikumszahlen (und -erlöse) und betrieblichen Aufwand in ein effizienteres Verhältnis zu bringen.
Erstmals liegt eine Publikation vor, die den Theaterbesuch in Deutschland über einen längeren Zeitraum in den Blick nimmt. Zuletzt hat der Deutsche Bühnenverein im Jahr 1987 eine mehrjährige Datenkompilation veröffentlicht, ohne die Trends nur schwer nachgezeichnet werden können. Die Theaterstatistik bildet aber nur einen Teil des Theater- und Konzertlebens ab. Sie berücksichtigt nicht das Theaterangebot in Städten mit Gastspielbetrieb, kommerzielle Veranstalter oder freie Gruppen. Hier gibt es bisher nur unzureichend valides Zahlenmaterial, was dem Nachholbedarf in der Kulturstatistik und Kulturforschung in Deutschland insgesamt geschuldet ist. Der Autor weist darauf hin, dass die Statistik des Bühnenvereins kritisch gelesen werden will, etwa hinsichtlich der Definition von Auslastungszahlen und Platzsperrungen, des Begriffs »Besucher« (statt Besuche), von Erhebungslücken bei den beteiligten Theatern und der Berücksichtigung von Frei- und anderen rabattierten Karten in der Besuchsstatistik (immerhin 17 % aller Besuche in der Spielzeit 2018/19).
Da es um Daten und Datenvergleiche sowie Kennzahlen geht, ist das Buch komplex. Eine Vielzahl an Abbildungen und Tabellen ergänzen den Text und wollen interpretiert werden. Sekundärliteratur und ein Anhang belegen die Untersuchungsergebnisse und geben weiterführende Informationen, darunter auch Hinweise auf Dissertationen, die einzelne Aspekte empirisch vertiefen (u.a. zur Geschichte und Politökonomie deutscher Theatersubventionen, Wirtschaftlichkeit der verschiedenen Theater-Rechtsformen, kosteneffizientes Theater).
Rainer Glaap widmet sein Buch dem verstorbenen Armin Klein, Hochschulprofessor und Mitautor des »Kulturinfarkt«, der noch ein lesenswertes Geleitwort beisteuern konnte. »Publikumsschwund« ist daran anschlussfähig und ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit grundlegender kulturpolitischer Transformationen.
Kurt Eichler
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