in Publikumsschwund

Kommt das ältere Publikum in Teilen nicht wieder, weil es von der Digitalisierung im Verkauf überfordert ist?

Das Orchester. Titelbild Nov. 2023

Das ist die These, die Sven Scherz-Schade in seinem Beitrag “Das ganze Publikum im Blick” in der Zeitschrift Das Orchester in der Novemberausgabe aufstellt:

Mit Blick auf die Jahrgänge sind es häufig ältere Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen nicht voll und ganz auf den digitalisierten Einkauf einlassen möchten oder können. Die These ist damit vage formuliert. In diesem Artikel können wir ihr nicht empirisch mit Statistiken oder anderen Beweisen nachforschen.

Der Autor befragt mit Björn Schlesselmann einen ausgewiesenen Ticketing-Experten (Geschäftsführer des Ticketing-Anbieters Bilettix GmbH), der klar die Richtung anzeigt:

“Diejenigen Häuser, die print-at-Home anbieten, liefern bestimmt 90 Prozent ihrer Aufträge auf diesem Kanal auch aus.”

Sicher hat es durch die Pandemie einen Schub in der Digitalisierung gegeben, aber Online-Ticketing gibt es in Deutschland seit den späten 90er Jahren. Es hat sich kontinuierlich verbessert, der Entwicklungsstand hat sich seit allerdings 2018/19 nach außen hin nicht wesentlich verändert, nur die Buchungshäufigkeit hat natürlich zugenommen. Und meines Wissens hat kein Theater und Opernhaus in Deutschland seine Kassen geschlossen. Möglicherweise wurden aber die Öffnungszeiten den verminderten Zuspruch angepasst: bei bis zu 90% Online-Buchungen geht der Bedarf an Kassenöffnungszeiten stark zurück – und warum sollten Mitarbeiter:innen gelangweilt in der Kasse sitzen, wenn es so viele wichtige Aufgaben im Vertrieb und Marketing gibt, für die nie genug Personal vorhanden ist?

In einigen skandinavischen Ländern sind Theaterkassen schon vor Jahren geschlossen worden, dort wird nur noch online verkauft und möglicherweise an der Abendkasse (wenn noch Karten verfügbar sind) – und es ist nicht bekannt, dass dadurch wesentliche Schichten des Publikums ausgeschlossen wären.

Dann beklagt eine der befragten Ticketkäuferinnen die Schwierigkeit, bei festgelegten Vorverkaufsdaten nicht zum Zuge zu kommen:

„So wie es tatsächlich Cordula Dürr beim Carmen Würth Forum passiert ist. Dort nämlich wird für die Konzerte im Vorfeld bekanntgegeben, an welchem Datum der Ticketverkauf für die Veranstaltung startet. Das hat zur Folge, dass an diesem Tag ab 11 Uhr alle potenziellen Besucherinnen am Rechner hängen, um ihr Wunschticket abzubekommen. Sätze wie „Sie waren längere Zeit inaktiv und Ihr Reservierungsvorgang wurde beendet. Bitte beginnen Sie erneut“ sind in solchen Situationen verständlicherweise besonders ärgerlich. Klar, dass hier so mancher aufgibt oder eben versucht, auf konventionellem Weg an Karten zu kommen.“

Quelle: Screenshot von der Website des Carmen Würth Forums. Zahlreiche Konzerte sind erst ab bestimmten Daten für den Verkauf freigeschaltet.

Feste VVK-Termine gibt es übrigens für viele Veranstalter: nicht nur für Rock und Pop Stars wie Bruce Springsteen oder Taylor Swift, wo hunderttausende an den Computern hängen, sondern auch für Theater wie das Berliner Ensemble, die Schaubühne in Berlin, die Silvesterkonzerte der Berliner Philharmoniker oder die Opernfestspiele in München, Dort galt sogar bis vor wenigen Jahren: mit bis zu einer Woche (!) kontinuierlich Schlange stehen für eine Pole Position für den Verkaufsbeginn der Opernfestspiele an einem Samstag um 10 Uhr (mittlerweile online, und sicher kein Schaden fürs Publikum).

Das Carmen Würth Forum nutzt übrigens, wie ein großer Teil der Stadt- und Staatstheater in Deutschland und anderen Ländern, die Software Eventim.Inhouse, die speziell auf deren Bedürfnisse zugeschnitten ist. Diese Software ist, wenn der Veranstalter es wünscht, an das Eventim-Vertriebsnetz mit seinen zahlreichen physischen Vorverkaufsstellen angebunden. Die geneigte Kundin könnte also an der Kasse, in einer Vorverkaufsstelle oder online sowohl auf der Website des Forums selbst als auch bei EVENTIM Karten kaufen. Für das Carmen Würth Forum listet Eventim übrigens 17 VVK-Stellen für das Postleitzahlgebiet 74 (Künzelsau).

Außerdem: Wer heute um die 80 ist, hat in seinem Berufsleben spätestens seit Mitte der 90er mit Computern gearbeitet, war damals also um die 50 und Computern noch mindestens 15 Jahre „ausgesetzt“. Wer in die Oper oder ins Konzert geht, wird feststellen: Wenn jemand während des Konzerts oder der Vorstellung zum Handy greift, sind es meist ältere Damen, die ihre WhatsApp-Nachrichten checken oder angerufen werden und vergessen haben, den Flugmodus für die Dauer der Vorstellung oder des Konzerts einzustellen (junges Publikum suchen wir da meist eh vergebens).

Mein Fazit: Wie vom Autor angekündigt, ist es bei anekdotischer Evidenz für seine These geblieben. Eine empirische Bestätigung dieser These auf Basis einer größeren repräsentativen Umfrage steht aus.

Gegenthese: Ein Teil des bisher treuen Abo-Publikums ist aus Altersgründen weggebrochen, zwei  Jahre on/off durch die Pandemie war zuviel und haben vielleicht den einen oder anderen einfach entwöhnt oder die Gesundheit hat gelitten und ein Konzertbesuch ist schlicht zu beschwerlich gworden. Diesen Rückgang kann man leider überdeutlich z.B. bei den Bremer Philharmonikern (s. mein Blogbeitrag vom Mai) sehen. 

Abonnent:innen bekommen ihren Aboausweis oder ihre Tickets übrigens vor oder zu Beginn der Spielzeit zugeschickt und sind nicht auf Kassenöffnungszeiten angewiesen. 

Quelle: Das Orchester, Ausgabe 11/2023, ist online oder im Zeitschriftenhandel erhältlich oder in gut sortierten Bibliotheken einsehbar.

Lesetipp: Digitales Ticketing, Rainer Glaap und Martin-Christian Heilgenberg, in: Der digitale Kulturbetrieb, hrsg. von Clara Herrmann und Lorenz Pöllmann

Disclaimer: Der Autor dieses Blogbeitrags hat von 2005 bis 2019 in verschiedenen Positionen für die o. g. Ticketing-Lösung Eventim.Inhouse gearbeitet, befindet sich allerdings seit Anfang 2020 im (Un)Ruhestand.


Entdecke mehr von Publikumsschwund

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Schreibe einen Kommentar

Kommentar

Webmentions

  • Postpandemischer Veränderungsdruck – neue Erkenntnisse des IKTF (Dez. 2023) – Publikumsschwund

    […] gekauft werden müssten.Anm.: Das ist eine imho komplett falsche Einschätzung, über die ich schon an anderer Stelle geschrieben habe: Nach meiner Erkenntnis hat keine Theaterkasse ihre Arbeit eingestellt, die […]