Die taz bringt am 31.5.22 einen Beitrag über Klassismus in Kunst und Kultur: „Nach den Regeln der Kunst. Wenn die Klasse entscheidet“. Dabei fallen mir zwei Begebenheiten ein, die den Klassismus an dieser Stelle bestens illustrieren. Sie sind zwar nicht Grund für den Publikumsschwund. Klassismus kann aber die Erschließung neuer Zielgruppen für Kultureinrichtungen massiv behindern.
Istanbul – der erste Theaterbesuch meines türkischen Wirts mit seiner Frau endet erfolglos
Vor einigen Jahren bringt „mein“ Stadttheater die Produktion “Istanbul” in der Regie von Selen Kara. Es werden viele Lieder der sehr bekannten türkischen Sängerin Sesen Akzu gesungen – von deutschen Schauspieler:innen auf türkisch, phonetisch gelernt (aber das ist ein anderes Thema).

Seit vielen Jahren esse ich beinahe wöchtenlich in einem türkischen Restaurant in der Nähe meines Arbeitsplatzes zu Mittag und mache dort Werbung für den Besuch – vermeintlich ohne Erfolg. Nach fast 2 Jahren Istanbul auf dem Spielplan sagt aber eines Tages mein Wirt: Kennst du Istanbul? Ich sage: Klar, kenne ich. Er: Ich habe für Freitag Karten für meine Frau und mich. Am Montag frage ich nach: Wie hat Euch Istanbul gefallen? Er: Haben wir nicht gesehen, wir wurden wieder nach Hause geschickt, weil wir zu spät kamen.
Was immer dort passiert ist, kann ich nicht aufklären. Istanbul ist aber kein Stück, wo es keinen Nacheinlass geben kann, Zuschauer:innen sitzen auf der Bühne, es gibt Tee und Vorspeisen, es wird mit Teilen des Publikums getanzt. Und: ich kenne fast alle Mitarbeiterinnen des Vorderhausteams in Bremen – die sind alle sehr nett und freundlich und lassen natürlich immer wieder zu spät Kommende ein – wenn es passt. Dem Theater ist auf Nachfrage auch nicht bekannt, dass jemand nach Hause geschickt wurde … Wie auch immer, mein Wirt und seine Frau hatten auf jeden Fall den Eindruck, etwas falsch gemacht zu haben und sind nach Hause gegangen … Auch die schon geschlossene Saaltür nach Spielbeginn kann man als Aufforderung interpretieren, nach Hause zu gehen, wenn man es nicht besser weiß.
Ich spreche also mit dem Theater und sage: Ihr wisst, was ihr jetzt tun müsst! Das ist auch keine Frage, am nächsten Tag ist jemand im Restaurant mit einem Umschlag mit 2 Freikarten und einer Entschuldigung. Bei meinem nächsten Besuch im Restaurant werde ich natürlich angesprochen: Hast du mit dem Theater gesprochen? Wir haben Freikarten!
Ich gehe dann auch noch mal zur entsprechenden Vorstellung um sicherzustellen, dass es mit dem Besuch auf jeden Fall klappt. Das tut es. Die Beiden haben einen sehr schönen Abend, versichern sie mir später.
Für den Theaterbesuch gibt es viele Codes, die Erstbesucher nicht kennen und an denen sie scheitern können …
Die zweite Begebenheit hat sich bei einem Konzert ereignet. Dazu gibt es einen eigenen Blogbeitrag.
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