
Das Handelsblatt hat in der Wochenendausgabe vom 23.8.2024 mein Buch „Publikumsschwund?“ zum Anlass für einen zweiseitigen Artikel genommen. Der Autor Hans-Jürgen Jakobs nimmt einige Leer- und Missstände der letzten Zeit an deutschen Theatern (Wiesbaden, Dortmund, Erfurt, Deutsches Theater Berlin) zum Anlass, einen Blick auf die Strukturen zu werfen.
Und berichtet über einige Zahlen aus meinem Buch:
Jüngst erschien im Wissenschaftsverlag Springer Nature ein Buch voller Statistiken, das es in sich hat. Der Theaterwissenschaftler Rainer Glaap hat in „Publikumsschwund?“ über sieben Jahrzehnte hinweg statistisch Dramatisches festgehalten. Danach habe sich – gesamtdeutsch berechnet – die Zahl der Theaterbesuche seit 1956 auf nunmehr 18,6 Millionen fast halbiert, während die Bevölkerung in der gleichen Zeit von 71,4 Millionen auf 83,2 Millionen gestiegen war. Gestiegen war nur die Zahl der Besucher klassischer Konzerte oder von Opern. Brisant auch eine Kennzahl: Der Autor teilt die Zahl der Theaterbesucher durch die Bevölkerungszahl – und kommt so im Boomjahr 1956 auf einen Wert von 0,5, für das letzte Berichtsjahr 2019 jedoch nur noch auf eine mickrige Zahl von 0,22.
Er fragt sich dann, ob sich die Theater insgesamt in einer Legitimationskrise befänden und spricht dazu u.a. mit Claudia Schmitz, Geschäftsführerin des Deutschen Bühnenvereins, die erst mal abwiegelt und den eigenen Besuchszahlen ihre Bedeutung abspricht.
„Die reine Beobachtung und Dokumentation, wie sich Besuchszahlen im Laufe der Jahrzehnte entwickelt haben, trägt wenig zu einem kulturpolitischen Diskurs über die Bedeutung der Theater heute bei. […]
Der Deutsche Bühnenverein weist darauf hin, dass sich der Betriebszuschuss zwar verzehnfacht habe – das Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum aber vervierzigfacht.
Die letzte Zahl ist eklatant falsch, wie man leicht mit einer Recherche bei Destatis herausfinden kann: das BIP hat sich nicht vervierzigfacht, sondern versechsfacht, wenn man es pro Kopf rechnet wie den Betriebszuschuß (s. hier). Ein Wachstum auf das Vierzigfache ergibt sich etwa, wenn man nominale Zahlen ansetzt. In nominellen Zahlen hat sich der Betriebszuschuss pro Besuch im genannten Zeitraum nach der Theaterstatistik mehr als „verfünfundvierzigfacht“.
Dann befragt der Autor den Kulturpolitiker Prof. Dr. Dieter Haselbach, der vor ca. 12 Jahren gemeinsam mit Armin Klein und anderen den damals zu Unrecht viel geschmähten Band „Der Kulturinfarkt“ herausgegeben hat, der aber in letzter Zeit wieder an Beachtung gewonnen hat und häufiger in den Beiträgen der aktuellen Ausgaben der „Kulturpolitischen Mitteilungen“ auftaucht.

Quelle: Theaterstatistik des Deutschen Bühnereins
Es gäbe viele Versuche, mit neuen Modellen und Produktionsformen das deutsche Theater zu reformieren, die Beharrungkräfte seien allerdings hoch.
Die Frage sei auch, ob das Theater noch ein Ort der ästhetischen Erziehung sei (Schiller) oder der demokratischen Auseinandersetzung diene. Dazu Haselbach:
„Jedes Mal, wenn ich ins Theater gehe, merke ich: Da sitzt ein enger Publikumsausschnitt von Interessenten, die sich meistens einig sind. Die Artikulationsräume sind inzwischen woanders – schauen Sie, wie Verschwörungstheorien im Netz kursieren. An diese Räume kommt die Institution zur moralischen Erziehung des Menschengeschlechts nicht mehr ran“, sagt Haselbach.
Auf eine Änderung baut der Beitrag im Handelsblatt nicht. Das Theater wolle geliebt sein, sich aber nicht ändern.
Quelle: „Der Vorhang fällt – und alle Stühle leer“, Handelsblatt, 23.8.2024; https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/theater-krise-46-milliarden-euro-steuergelder-aber-kaum-noch-publikum/100057750.html (Paywall)
Verfügbar auch z. B. über Wiso-Net, URL https://www.wiso-net.de/document/HB__2FC0D262-6544-4A5F-8536-54595B974EA5%7CHBPM__2FC0D262-6544-4A5F-8536-54595B974EA5 (erreichbar für die meisten Studierenden und Universitätsmitarbeiter:innen über ihre Bibliotheksaccounts)
Destatis: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen; URL https://www.statistischebibliothek.de/mir/receive/DEHeft_mods_00154495 (zuletzt abgerufen am 24.8.2024) (der ursprüngliche Link bezog sich auf ein anderes Thema und wurde korrigiert)
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