
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Dieter Haselbach
Ein großer Wurf des niederländischen Künstlers und Kultursoziologen. Er sollte schon mit seinem inzwischen 21 Jahre alten Buch „Why are Artists Poor?“ in der kulturpolitischen Diskussion viel präsenter sein. Mit einer Anzeige dieser Arbeit möchte der Rezensent begründen, warum das neue Werk zur Pflichtlektüre für Kulturmanager und zum Grundlagentext der Kurse zu Entrepreneurship im Kunst- und Musikstudium werden muss.
Abbing organisiert sein kultursoziologisches und kulturökonomisches Material in einer Rahmenerzählung, die die letzten Jahrhunderte westlicher (europäisch-nordamerikanischer) Kultur umfasst. Es geht um ernste und populäre Kunst. Die zur Praxis geronnene Vorstellung, es gäbe ernste Kunst, so führt Abbing in sein Buch ein, prägte das Kunstgeschehen für einen Zeitraum von etwa einhundert Jahren. Davor gab es die Unterscheidung von E und U nicht, sie wurde erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt. Seit etwa 1980 verliert die Unterscheidung von E und U wieder an Bedeutung, obwohl es noch starke Kräfte gibt, die weiter für eine solche Abgrenzung kämpfen. Denn entlang dieser Abgrenzung werden Privilegien und staatliche Förderung verteilt. Das soziologische Argument – die Begriffe Bourdieus spielen eine große Rolle – überzeugt: ernste Kunst ist ein Konstrukt der bürgerlichen Epoche des Gesellschaftslebens. Mit dieser Rahmenerzählung gelingt es Abbing nicht nur, den Begriff der Kunst und das künstlerisch-kulturelle Leben zu historisieren, sondern auch, die distanzierte Perspektive eines Historikers und Ökonomen auf eine vergehende Epoche zu gewinnen, deren Besonderheiten dann gelassen zu schildern sind, also in Distanz zu den aufgeregten Debatten, die Kulturpolitik gerade in Zeiten der Veränderung so stark prägen.
Konsequent soziologisch ist auch Abbings Blick auf Kunst. Kunst entsteht erst in der Interaktion von Kunstwerk und Kunstrezipient. Das gilt auch für die ernste Kunst. Aus diesen Interaktionen entsteht die Kunstwelt (artworld). Welche Kunstwelt aber wird unter der Vorstellung ernster Kunst geprägt? Die ernste Kunst verlangt angemessene Gebäude, in den Innenstädten entstanden Kunsttempel. In diesen Kunsttempeln treffen sich die Bürger, sie beziehen sich auf die Kunst, der man mit angemessener Andacht näherzukommen hat. Es entsteht ein Verhalten, das viele der Hallen der Kunst bis heute prägt. Richtiges Verhalten ist das Schweigen im Konzertsaal und im Theater, ist der stille Genuss im Museum. Was in den Kanon ernster Kunst gehört, kann sich wandeln, aber solcher Wandel ist zögerlich. Im Konzertsaal wie in der Oper wird meist nur ein sehr begrenztes „klassisches“ Repertoire präsentiert. Nur: Das Klientel solcher ernsten Kunst wird immer kleiner. Menschen, die diese Kunst nicht teilen, vielleicht schon, weil sie die Form der Kunstdarbietung nicht goutieren, gelten vor den Altären der ernsten Kunst als Menschen minderer Güte. Ernste Kunst ist ein Mittel der Distinktion. Und wenn es der Distinktion hilft, darf Kunst auch einmal „schwierig“ sein. Adorno erklärte noch, Jazz sei keine ernste Kunst. Inzwischen ist er, und in den Jazzkonzerten, wo er es ist, herrscht jener heilige Ernst der ernsten Kunstrezeption.
Das soziale Konstrukt der ernsten Kunst wird von Abbing facettenreich beschrieben. Sie sei authentisch (was immer es heißen mag, authentisch zu sein), sie spreche für sich selbst. Kunst gilt als Schöpfung von Künstlerpersönlichkeiten, Kunstwerke seien singulär. Sie haben eine Aura. Abbing lehrt uns zu verstehen, dass solches Verständnis von Kunst nicht die Sache beschreibt, sondern dass sie in einem Zusammenspiel von Produktion und Rezeption entsteht. Erst ernste Kunst machte die Künstlerpersönlichkeit, erst ernste Kunst versieht das Werk mit der Aura der Einzigkeit. Vor der bürgerlichen Epoche war das alles nicht so.
Für die Periode ernster Kunst gilt ein „Alles für die Kunst“. Ernste Kunst unterliegt keinen Beschränkungen, sie darf alles und sie unterwirft sich keinen ökonomischen Restriktionen. Kunst und Kommerz widersprechen sich in der artworld ernster Kunst. Für die meisten Künstlerinnen, die sich in dieser Sphäre bewegen und die sich als ernste Künstler verstehen, hat dies eine paradoxe ökonomische Wirkung: Sie opfern der Kunst ihre ökonomischen Interessen. Und die Kunstwelt erwartet genau das von ihnen, denn dies ist Beleg für die Authentizität und den Ernst des künstlerischen Tuns. Nur Wenige erreichen in der Welt ernster Kunst einen auskömmlichen Lebensunterhalt. Der Opposition von ernster Kunst und Kommerz widerspricht nicht, dass ernste Kunst in erheblichem Maße durch öffentliches Geld gestützt und unterhalten wird. Solches Geld allerdings kommt nur sehr selektiv bei den Künstlerinnen und Künstlern an, wenn sie nicht das Glück haben, in einem Kunsttempel eine feste Anstellung gefunden zu haben.
Ganz anders ist dies in der Kunst, die sich nicht in die Vorstellungswelt ernster Kunst einfügt. Für Unterhaltung oder auch für Kunstformen, die in den Kanon des ernsten nicht aufgenommen sind, zahlt in der Regel das Publikum, und es zahlt oft reichlich. Kaum und nur ausnahmsweise zahlen hier die öffentlichen Hände. Wo das System der ernsten Kunst nicht hinreicht, ist Markt, dies nicht zum Nachteil der Künstler.
Soweit eine Zusammenziehung von Überlegungen Abbings zur Epoche der ernsten Kunst; der Reichtum der Argumente kann hier nur angedeutet werden. Das letzte Kapitel seines Buches widmet der Autor den Verhältnissen seit den 1980er Jahren. Seitdem erodiert die ernste Kunst, seitdem kommen E und U sich wieder näher, Tabus in der Rezeption und der Produktion lösen sich auf, auch die Feindschaft gegen kommerzielle Kunst verliert ihre Kraft. Zum Teil kommt diese Bewegung aus einem ökonomischen Selbstwiderspruch und Zwang in der ernsten Kunst, sie wird – das „Baumolsche Gesetz“ wirkt hier – immer weniger bezahlbar, trotz der Unterstützung durch öffentliches Geld. Zum Teil kommt sie aus einer Veränderung in der Kunstrezeption: die Publika ernster Kunst schrumpfen mit der Veränderung der Gesellschaften. Zum Teil aber, und diesen Veränderungen geht Abbing sowohl in die Technologie wie in die dadurch veränderte Ökonomie von Kunstproduktion und -rezeption nach, sind es die grundstürzenden Veränderungen, die vor allem mit der Digitalisierung einhergehen, die sowohl in den Inhalten wie auch in den Distributionswegen von Kunst zu Disruptionen führt. Neue Chancen für Künstlerinnen und Künstler liegen nach Einschätzung des Autors vor allem dort, wo sie sich nicht scheuen, ihr Tätigkeitsfeld auszuweiten, neue Kooperationen zu suchen, und eben nicht mehr den Anforderungen sich unterwerfen, die ernste Kunst ihnen auferlegte und auferlegt, wo sie noch dominant ist.
Warum dieses Buch als Pflichtlektüre? Es präsentiert eine Kunstwelt, in dem nicht nur ästhetische, sondern eben auch soziologische und ökonomische Faktoren wirken, also das, was im System ernster Kunst ausgeblendet wurde und wird („Alles für die Kunst“). Damit ist das Buch eine gute Einführung in das, was Absolventen von Kulturmanagement und von Kunsthochschulen im Beruf erwartet. Entrepreneurship – um eines der gerade beliebten Buzzwords aufzugreifen – ist nicht als Haltung, sondern wird erst dann wirksam, wenn das Wirkungsfeld vertraut ist. Abbings Buch ist, das macht es besonders für die Lehre geeignet, gut zu lesen, sogar unterhaltsam. Abbing definiert seine Begriffe sorgfältig: immer wieder sind Textkästen eingestreut, die die Begriffe und die seine Begriffsverwendung erklären und kritisch absichern. Und Abbing bietet Beispiele: durch den Band finden sich eingestreute kurze Anekdoten über eine Künstlerin, die die theoretisch beschriebenen Lagen und Zwänge der Kunstwelt erlebt. Hans Abbing ist eben, das zeigte er schon in seinem früheren Buch „Why Are Artists Poor?“ beides, Künstler und Kulturwissenschaftler, Teil der artworld und Ökonom, und kann deswegen aus dem Blickwinkel beider Welten berichten. Für die vielen Ausbildungsgänge im Kulturmanagement wäre eine deutsche Übersetzung wünschenswert. Aber das manchmal mit einem niederländischen Akzent gefärbte Englisch ist gut lesbar und sollte der Rezeption in anderen Sprachkreisen nicht im Weg stehen. In den meisten einschlägigen Bibliotheken sollte das Buch elektronisch verfügbar sein, die Druckversion ist prohibitiv teuer.
Abbing, Hans: The Economies of Serious and Popular Art. How They Diverged and Reunited. Cham: Palgrave Macmillan, 2022. xiii und 345 S. Hardcover €128,39, eBook €96,29. https://doi.org/10.1007/978-3-031-18648-6
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Ganz großartige Besprechung, vielen Dank Dieter Haselbach.