in Publikumsschwund

Die verschleierte Diva

Das Publikum, die ewige große Unbekannte, und vagabundierende Interessenswolken

Gastbeitrag von Till Briegleb. Der Artikel ist zuerst erschienen im Jahrbuch 2023 der Zeitschrift Theater heute, Abdruck hier mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Wie hießen nochmal diese Schwebeteilchen in der Luft? Aurosole? Oder das, was die Schweden gegen das Virus gemacht haben? Hordenimmunität? Fast so fern, wie mancher Fachbegriff aus der Lockdownzeit vielen Menschen scheinen mag, wirkt bereits die letztjährige Relevanz-Panik zum postpandemischen «Publikumsschwund». Von der befürchteten Herdenimmunität gegenüber Kulturangeboten, die 2022 die Schlagzeilen bestimmte, ist 2023 kaum etwas übrig.

«Der Deutsche Bühnenverein meldet bundesweit eine Auslastung von wieder bis zu 80 Prozent», steht jetzt genau dort geschrieben, wo es im Vorjahr noch hieß: «Theater, Orchester und Oper stecken in der größten Krise seit 1945. Ein Blick auf die Realität reicht, um zu verstehen, dass viele Häuser den Überlebenskampf kaum noch gewinnen können, wenn nicht ein Wunder passiert.»

Diese Gegenüberstellung einer aktuellen Theaterumfrage zu einem typischen Feuilletonartikel der unmittelbaren Post-Covid-Zeit zeigt vor allem eins: Die raunenden Propheten eines Epochenbruchs lagen alle falsch. Dass viele Menschen nach der langen Angst- und Sorgezeit einer unsichtbaren Ansteckungskrankheit nicht in die öffentlichen Räume zurückströmten wie Herden in den Stall, veranlasste nahezu jedes der weni -gen Medien, die sich noch mit Kultur beschäftigen, pessimistisch über die Gründe einer «größten Krise» zu spekulieren. Die strukturelle Ungeduld des Journalismus, Erscheinungen ohne zeitlichen Abstand zu «analysieren», entwickelte sich zu einer medialen Hordeninfektion. Wer nicht sofort das Ende der Kultur, wie wir sie vor Covid kannten, ausrief, dem mangelte es offensichtlich an einem klaren «Blick auf die Realität».

Für diese Behauptungsseuche, die dem Publikumszuspruch Long-Covid attestierte, eignete sich der Gegenstand der Betrachtung besonders gut. Über nichts wissen Theatermenschen und ihre Berichterstattenden so Vages wie über die Zuschauerinnen und Zuschauer. Zwar gibt es immer wieder Befragungen, Studien und Statistiken zur Frage, wer eigentlich ins Theater geht, und wenn ja, wie viele. Aber wie bei allen anderen statistischen Erhebungen, mit denen wir Bildschirmwesen ständig «informiert» werden, erfährt mensch auch beim Zahlenmaterial zum Kulturpublikum äußert selten etwas über die genauen Rahmenbedingungen und die Quellenrelevanz der Ergebnisse.

Imaginäre Auslastungszahlen

Manche überraschende Meldung, etwa über Auslastungszahlen, erscheint bei näherer Betrachtung so absurd wie die weit verbreitete Pressemeldung, beim letzten Oktoberfest seien «stolze 40 Prozent vegane Currywurst und 20 Prozent vegane Weißwurst» verkauft worden. Wie diese unglaubliche Sensationsmeldung aus den groben Schätzungen von einem einzigen Festzelt gewonnen wurde, während es in 37 anderen überhaupt keine Pflanzenwurst gab, so errechnen sich auch Auslastungszahlen häufig unter Bedingungen, die primär dazu dienen, absolute Zahlen zu verschleiern.

Mit gesperrten Rängen, vielen kleinen Formaten, eingerechneten Freikarten und reichlich Schließtagen lassen sich prozentuale Auslastungszahlen erzielen, die das Gegenteil von absoluten Zahlen beschreiben. Mit viel weniger Besuch lässt sich eine viel höhere Nachfrage behaupten. So bejubelte etwa das Festival Theaterformen Hannover in seiner Bilanzmeldung 2023 eine 75-prozentige Auslastung. Die 6000 Zuschauer, die zu den 45 meist kleinen Veranstaltungen kamen, sind aber weniger als die Hälfte der 13.000 von vor zehn Jahren. Damalige Auslastung: 78 Prozent.

Der vollständige Beitrag findet sich auf der Website von Theater heute unter dieser Adresse:

https://www.der-theaterverlag.de/theater-heute/archiv/artikel/die-verschleierte-diva (für Abonnenten von Theater heute kostenlos)


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