in Publikumsschwund

Rückrufe oder das große Schweigen: Die Stunde des Anrufbeantworters

Die gute alte Telefonzelle. Da konnte man (zumindest in Deutschland) auch nicht zurückgerufen werden.

Ich bin für das Ticketing einer kleinen Kultureinrichtung in Bremen verantwortlich. Dazu gehört auch die Bearbeitung von Ticketwünschen per E-Mail oder per Anrufbeantworter, denn wir haben keine Tageskasse und auch kein Budget für Mitarbeiter:innen, die tagsüber Telefondienst machen. 

In diesem Zusammenhang habe ich ein dunkles, fast schon subversives Geheimnis: Ich rufe zurück.

Bevor Sie jetzt in Ehrfurcht erstarren oder mich für den letzten Überlebenden einer längst vergessenen Zivilisation halten, lassen Sie mich erklären. 

Es begann als einfache Höflichkeit, wurde aber schnell zu einem soziologischen Experiment, das ein erschreckendes Licht auf den Zustand unseres modernen Dienstleistungsgedankens wirft – quer durch alle Branchen, von der Hochkultur bis zur Hausarztpraxis.

Meine Gesprächspartner, überwiegend ältere Kunden, die keinen Internetzugang haben und Tickets buchen wollen, reagieren auf meinen Rückruf fast einheitlich mit einer Mischung aus Überraschung, Rührung und leichtem Schock.

„Oh! Sie… Sie rufen tatsächlich zurück? Das ist ja ungewöhnlich.“

Dieses Zitat, leicht variiert, höre ich so oft, dass es fast schon zur obligatorischen Begrüßungsformel geworden ist. Und jedes Mal, wenn dieser Satz fällt, sehe ich vor meinem geistigen Auge eine gigantische Lücke in der Servicewüste, die wir alle gemeinsam bewirtschaften.

Nebenschauplatz: Die Tragödie der verpassten Absage

Der Kern des Problems liegt in einer himmelschreienden Schieflage: Wir alle leben in einer Kultur der Anforderung von Erreichbarkeit, während wir gleichzeitig die Dienstleistung der Erreichbarkeit selbst eingestellt haben. Man denke nur an die Flut von E-Mails, SMS und Aushängen in Arztpraxen oder bei Handwerkern:

„Bitte sagen Sie Termine, die Sie nicht wahrnehmen können, mindestens
24 Stunden vorher ab. Wir behalten uns vor, Ihnen andernfalls
die Kosten in Rechnung zu stellen.“

Dieser Satz ist in seiner Logik zwingend und absolut richtig. Ressourcenplanung, Ausfallkosten, Respekt vor der Zeit anderer – alles völlig nachvollziehbar. Doch wie soll man diesen Termin absagen, wenn die Gegenseite eine digitale Festung der Nichterreichbarkeit errichtet hat? Man wählt z. B. die Nummer der Arztpraxis. Was folgt, ist das akustische Äquivalent einer Bürokratie-Hölle: 

„Ihr Anruf ist uns wichtig. Bitte bleiben Sie dran.“

Nach fünf Minuten Wartezeit kommt der gnädige Tod des Anrufs:

„Derzeit sind alle Leitungen belegt. Bitte rufen Sie später an.“

Meist auch noch ohne die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen (wo man dann davon ausgehen würde, dass der Anrufbeantworter wahrscheinlich eh nicht abgehört wird).

Man ist in der absurden Situation gefangen, dass man verhindert wird, einen Terminausfall zu verhindern. wenn denn die geplante Praxisgebühr erneut eingeführt wird, wird man zum zahlenden Sünder wider Willen, weil das System der Erreichbarkeit auf einer Seite (der des Dienstleisters) systematisch zusammengebrochen ist.

Die Pflicht der digitalen Höflichkeit (UX)

Es rufen aber auch nicht nur Menschen ohne Internetzugang an, sondern auch solche, die mit den Benutzeroberflächen der Anbieter nicht zurechtkommen. Versteckte Optionen, unverständliche Menüs, widersprüchliche Angaben sind hohe Barrieren. Dann greifen auch diese Menschen zum Hörer und wollen gehört werden. Diese User Experience (UX) sollte alle Benutzeroberflächen so designen, dass sie intuitiv, fehlerverzeihend und inklusiv sind. 

Ein wirklich guter Dienstleister denkt jedoch daran, dass auch nicht Internet-Affine Tickets kaufen möchten und testet seine Designs mit den entsprechenden Zielgruppen.

Kultur als Exklusion: Die Ökonomie der Nichterreichbarkeit

Dieses Phänomen der Nichterreichbarkeit trifft im Kulturbereich eine besonders sensible Stelle, denn es geht hier um weitaus mehr als nur um verpasste Umsätze. Es geht um gesellschaftliche Teilhabe. Seit der Pandemie hat sich die Art und Weise, wie Kultur konsumiert und verkauft wird, dramatisch verschoben. Die Digitalisierung ist für viele Theater, Opern und Museen eine ökonomische Notwendigkeit, da sie sich die volle Besetzung von Tageskassen oft nicht mehr leisten können. Wo früher die Faustregel galt, dass vielleicht 80 Prozent der Tickets online gekauft wurden und 20 Prozent noch physisch an der Kasse oder per Telefon, hat sich dieses Verhältnis in vielen Häusern heute umgekehrt: Sie liegen bei 20 Prozent Offline-Kauf versus 80 Prozent Online-Kauf. Diese Verschiebung ist effizient, sie führt bei einer kleinen, aber unverzichtbaren Minderheit von Menschen allerdings zur Isolation. Ich spreche von jenen Besuchern, oft ältere Menschen, die keinen Zugang zum Internet besitzen oder es nicht bedienen können, die keine E-Mail-Adresse haben und auch keine wollen. 

Deswegen bieten wir einen dezidierten Anrufbeantworter UND rufen auch zurück. 

Der Mensch ist ein soziales Wesen 

Meine Rückrufe sind in diesem Kontext eine kleine, unbeabsichtigte Revolution. Wenn ich zurückrufe, sage ich damit nicht nur: „Ich habe Ihre Nachricht gehört.“ Ich sage damit auch: „Ich respektiere Ihre Zeit und Ihr Anliegen.“ Die überraschte Reaktion meiner Gesprächspartner auf diesen minimalen Akt der Höflichkeit ist der traurige Gradmesser dafür, wie tief der Servicegedanke in unserer Gesellschaft gesunken ist. Was einst Standard war, ist heute ein herausragendes Alleinstellungsmerkmal. Wenn ein Unternehmen oder eine Praxis einfach nur die hinterlassene Nachricht beantwortet, erntet es Loyalität und positive Mundpropaganda, die mit keiner Marketingkampagne erkauft werden könnte. 

Menschen wollen nicht mit Algorithmen, FAQ-Seiten oder einer ewigen Warteschleife interagieren. Und auch nicht mit KI Chatbots. Sie möchte das Gefühl haben, dass am Ende der Leitung ein Mensch sitzt, der sie hört. Im Kulturbetrieb ist dieses Zuhören nicht nur Service, sondern ein demokratischer Auftrag, der über die bloße Kostenersparnis gestellt werden muss. 

Wenn auch Sie im weitesten Sinne im Service tätig sind: Gehen Sie ans Telefon. Hören Sie die Nachrichten ab. Rufen Sie die Menschen zurück.

Ein Rückruf ist heute keine Pflicht mehr. Er ist ein Akt der kulturellen Rebellion und der Wiederherstellung der menschlichen Verbindung. Und das ist ja – mal ehrlich – für uns alle ein Gewinn, besonders für die Teilhabe.

Ein tröstliches Wort zum Schluss: Es  gibt Arztpraxen, die antworten auf E-Mails, es gibt Theater, die rufen sogar zurück, wenn sie im Display ihres Telefons einen Anrufversuch verzeichnen. Zahlreiche Theaterkassen sind so im Dienste ihrer Kunden. Das weiß und erlebe ich selbst immer wieder als Besucher. Aber es ist eben insgesamt SO WENIG selbstverständlich, dass diese klaren Worte notwendig waren.


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