
Besucherorganisationen wie die „Freie Volksbühne“ entstanden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und waren ursprünglich dem Gedanken der Arbeiterbildung geschuldet. Die Volksbühnen kauften Karten en gros und bündelten sie in eigenen Abonnements zu günstigen Preisen. Dabei ging es gerechter zu als im freien Markt: die Preise mussten sozialverträglich sein und galten für alle Mitglieder gleich. Um Vorteile bei der Platzwahl für die einen und Nachteile für die anderen zu vermeiden, wurden die Mitglieder quasi in Ketten durch den Saal gezogen, so dass jeder mal vorne, mal mittig, mal hinten saß.
| Nach dem ersten Weltkrieg, so geht die Legende, wurde Rücksicht auf die vielen Kriegsversehrten genommen. Wer z.B. ein linkes steifes Bein hatte, sollte links außen am Rand sitzen – das wurde dann bei der Verteilung der Karten entsprechend berücksichtigt. Diese Mimik der Kartenverteilung wurde viele Jahre im Staatstheater Hannover als „Los-Abonnement“ angeboten, obwohl es sich genaugenommen nicht um eine Verlosung handelte, die Besucher bekamen aber für jede Vorstellung andere Plätze, insofern gab es ein gewisses Überraschungsmoment. In den Anfangsjahren wurde sogar am Ende der Spielzeit eine Bestplatzabrechnung vorgenommen – wenn die Summe aller Karten aus „guten“ und „schlechten“ Plätzen kleiner war als die am Anfang der Spielzeit gezahlte Abo-Gebühr, wurde die Differenz erstattet. Nachzahlungen wurden aber nicht fällig. Das Los-Abonnement wurde vor einigen Jahren aus technischen Gründen in Kombination mit nachlassender Nachfrage eingestellt. |
Volksbühnen spielten lange eine große Rolle im Vertrieb von Theaterkarten, auch wenn nicht alle Theater damit glücklich waren, da die Volksbühnen große Rabatte erwarteten.
Leider spielt dieser Gemeinschaftsgedanke einer solchen Solidargemeinschaft immer weniger eine Rolle, wie ich in der folgenden Untersuchung aufzeige.
Neben den Volksbühnen gab es auch kommerzielle Besucherorganisationen, z. B. den Besucherring Dr. Otto Kasten, der 1949 in Lübeck gegründet wurde. In seiner Hochzeit versorgte dieser Besucherring sieben Millionen Menschen mit Karten für die Häuser in seinem Einzugsgebiet. 2012 musste Dr. Otto Kasten Insolvenz anmelden. Ob da an fehlenden Mitgliedern oder mangelhafter Bewirtschaftung lag, ist heute nicht ganz klar.
In Berlin gibt es bis heute vier voneinander unabhängige Besucherorganisationen, die ihren Mitglieder in unterschiedlichen Kombinationen zur Verfügung stellen.
Nach wie vor gibt es aktive Besucherorganisationen in Deutschland, wenn auch die Anzahl der über sie vermittelten Karten dramatisch abgenommen hat.

Waren es 1959 auf dem Höhepunkt mit fast 6 Millionen Karten fast 30% aller verkauften Karten, sind es 2018/19 nur noch 4,3% (die Zahlen für 2019/20 sind nicht vergleichbar, da bereits ab März 2020 der Spielbetrieb massiv oder komplett eingestellt werden musste, wegen der COVID-19-Pandemie).

Der Mitgliederschwund in manchen Besucherorganisationen ist so dramatisch, dass einige sich deswegen bereits auflösen mussten, so z. B. in Gelsenkirchen in 2018.
Die Volksbühne in Bremen löste sich im Herbst 2021 auf. In den fünfziger Jahren hatte die Bremer Volksbühne ihre besten Jahre mit bis zu 12.000 Mitglieder. Die Nachfrage war so hoch, dass nicht alle Kartenwünsche aller Mitglieder berücksichtigt werden konnten. 2021 war die Mitgliederzahl auf knapp 1.000 gesunken. Der Journalist Frank Schümann interviewte den letzten Geschäftsführer Holger Kohlmann dazu ausführlich:
„Wir sind darüber natürlich sehr traurig“, sagt Holger Kohlmann, aber die Entwicklung sei leider nicht aufzuhalten gewesen. Zum einen habe dies an der Altersstruktur gelegen: Die Einrichtung der Volksbühne habe sich immer auch an bestimmte Generationen gerichtet, die aufgrund des zunehmenden Alters eben irgendwann nicht mehr ins Theater gingen – oder, noch schlimmer, verstarben. Das Interesse der Jüngeren habe sich zuletzt stark in Grenzen gehalten – „wir haben sie nicht so erreicht, wie wir uns das gewünscht hätten“, sagt Kohlmann. Zum anderen würden die Bühnen heute selbst Angebote machen, die Vergünstigungen beinhalten; Vergünstigungen, die immer zum Prinzip von Publikumseinrichtungen wie der Volksbühne gehört hatten. In einem Schreiben an die zuletzt nur noch etwa 1000 Mitglieder führte er aus, dass es kaum noch neue Mitglieder gäbe, aber viele Kündigungen – außerdem fehlten zusätzliche Einnahmen.
Die Volksbühne Bremen gibt es nicht mehr. Theater Bremen, Nachdruck aus der Kreiszeitung.
Der Vergleich der Zahlen zeigt, dass das Abonnement zwar auch stark abgenommen hat, im Vergleich mit den Besucherorganisationen aber heute besser dasteht.
Dafür hat der Absatz der Einzelkarten stark zugenommen, woraus man schließen kann, dass die Besucher eher nicht mehr so häufig und regelmäßig ins Theater gehen und daher keine Bindung über Theatergemeinschaften oder theatereigene Abonnements eingehen wollen.

Das lässt sich auch an der Gesamtzahl der verkauften Tickets über alle Vertriebskanäle (+Freikarten, Schüler- und Studierenden-Karten etc., die oben nicht aufgeführt sind) ablesen. Die Zahlen sind relativ konstant über 20 Mio Besuche/Jahr seit Beginn der 90er Jahre. Der starke Sprung 1991/92 erklärt sich durch die Inklusion der ostdeutschen Theaterzahlen nach der Wiedervereinigung.

Die Anzahl der Theaterbesuche hat sich in der Bundesrepublik von 1949 bis 1960 auf fast 20 Mio Tickets verdoppelt. Der Mittelwert über die Jahre 1950 bis heute liegt dann auch bei ca. 20 Mio Tickets, trotz eines starken Wachstums der Bevölkerung. Wie genau sich die Theatergänge im Vergleich zum Bevölkerungswachstum verhalten seit den 1950er Jahren, muss Gegenstand einer anderen Untersuchung sein (Bevölkerungszunahme der Bundesrepublik von 1950 bis 2020 von 50,3 Mio Einwohnern und der DDR von 18,4 Mio (gesamt: 68,7 Mio) auf 83 Mio im wiedervereinigten Deutschland 2019).
Anmerkung: Die Zahlen sind den einzelnen Bänden der Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins entnommen. 1977 werden in der Statistik erstmals Gastspieldaten mit aufgeführt, das erklärt den Sprung um fast 2,3 Mio Karten nach oben. Ab 1991/92 sind die Daten der Theater der neuen Bundesländer inkludiert (1989/90 wurden in der DDR noch 8,9 Mio Tickets verkauft, im Jahr der Wiedervereinigung nur noch 4,7 Mio). Zahlen der Privattheater sind hier nicht aufgeführt.
Die Daten beinhalten:
- Tageskarten
- Platzmieten (=Abo, Anrechte (DDR))
- Besucherorganisationen
- Schüler- und Studentenkarten
- Vorzugskarten
- Ehrenkarten/Freikarten/Dienstplätze
Die Daten für 2004/5 sind fehlerhaft und deshalb ausgeblendet. Die Spielzeit 2019/20 war von der COVID-Pandemie betroffen, da ab Mitte März wegen des Lockdowns die Theater geschlossen waren. Die Zahlen liegen daher wesentlich niedriger als in früheren Spielzeiten.
Literatur, Videos & Radiofeatures
Theaterstatistik. Deutscher Bühnenverein. Seit 1949 (Online stehen immer die aktuellen Summentabellen zur Verfügung)
Deutsche Volksbühne. Bundesarchiv
Festakt – 120 Jahre Volksbühnenbewegung – Vortrag von Erika Fischer-Lichte. 20.12.2010
Durch Arbeitergroschen entstanden. Deutschlandfunk, 30.12.2014
Zustand und Zukunft der Besucherorganisationen in Berlin. Anhörung der Berliner Besucherorganisationen im Berliner Abgeordnetenhaus. 15.9.2008
The Volksbühne Movement. A History. Cecil Davies. 2000
Freie Volksbühne Berlin – seit 2017 Kulturvolk e.V.
Bund deutscher Volksbühnen (inaktiv?)
Besucherring Dr. Otto Kasten, Wikipedia
Volksbühne, Wikipedia
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Offenbar gibt es keine Regel ohne Ausnahme(n): an meinen beiden letzten Theatern sah es ganz anders aus. https://www.klauskusenberg.de/drei-grafiken/