in Publikumsschwund

Oper, Publikum und Gesellschaft – Karl-Heinz Reuband (Hrsg.)

Bild von FindingSR auf Pixabay

In seinem im Oktober 2017 erschienenen Sammelband zur Oper und zum Opernpublikum stellt Karl-Heinz Reuband eingangs fest, dass die empirische Forschung sich zwar im Marketing der Häuser gelegentlich mit der Besucherforschung beschäftigt, ihr Blickwinkel aber verkürzt sei, da zu sehr auf den Verkauf bezogen. Es fehle die Einbettung in Bevölkerungsumfragen für Vergleichswerte, auch sei keine kontinuierliche Forschung erfolgt – Metastudien seien wegen der unterschiedlichen Ansätze kaum möglich, weshalb hier nahezu ausschließlich empirische Originalarbeiten zusammengestellt und verarbeitet wurden. Leider beziehen sich manche dieser Informationen auf recht alte Datenbestände. So stammen die Daten für die Untersuchung von Schweiger, ob Opernkritiken in Tageszeitungen den Opernbesuch beeinflussen, aus den Jahren 1995 – 2004 – seitdem haben sich die Medienlandschaft und das Rezeptionsverhalten dramatisch verändert: Smartphones verbreiten sich seit 2007 und erst seit kurzem gilt für die Mediennutzung: Mobile First. Ein Gesamtergebnis der Studie ist dennoch interessant: schlechte Kritiken verhindern einen Opernbesuch eher nicht.

Viele der Beiträge sind äußerst lesenswert und warten mit deutlichen Erkenntnissen auf.

Hier einige Beispiele:

  • Eicher/Kunißen untersuchen in „Bizet, Bach und Beyoncé“, inwieweit sich Gruppen im Musikgeschmack bilden lassen und konstatieren ein wenig enttäuscht, dass keine klaren Grenzen zwischen Opernliebhabern und den Liebhabern anderer Musikrichtungen zu existieren scheinen – eine große Chance für die Opernhäuser.
  • In „Kulturpublikum im städtischen Kontext“ liefert Reuband eine interessante Erklärung, warum Frauen bei faktisch allen Untersuchungen die Mehrheit der Besucher stellen. Bei Verheirateten sei das Geschlechtsverhältnis ausgewogen, bei den Ledigen liege der Frauenanteil schon bei 58 %, bei Geschiedenen bei 69 % und bei Verwitweten bei 80 %.
  • Im Abschnitt „Das Regietheater und sein Publikum“ zeigt er auf, dass bei der Frage nach unterschiedlichen Aspekten eines Opernbesuchs das „musikalische Erleben“ mit ca. 80 % bewertet wird, die Regie nur mit 40 % und die „festliche Atmosphäre“ mit 5 % kaum noch messbar ist.

Spannend ist, wie viele der Autoren sich in ihren Beiträgen an der klassischen Distinktionstheorie von Bourdieu abarbeiten („die Klassenzugehörigkeit bedingt die Wertschätzung von Hochkultur“), um letztlich in der Summe ihrer Beiträge bedauernd zugeben zu müssen, dass ihre empirischen Untersuchungen keinen Nachweis für die Wirksamkeit dieses Konstrukts erbringen.

PS: In einer kleinen Skandalchronik zeigt Sven Oliver Müller die Geschichte der Saalschlachten bei Opern- und Konzertaufführungen im England des 19. Jahrhunderts. Insbesondere bei den beliebten Londoner Promenadenkonzerten (in Wien „Volksconcerte“, in Paris „Concert Monstre“ genannt), in denen bewusst die Stühle im Parkett entfernt wurden und die so für eine Beweglichkeit des Publikums sorgten, das häufig durch lautstarke Militärmusik emotional ordentlich angeheizt wurde. Diese Emotionen entluden sich nicht selten in Saalschlachten.

Verlag: Oper, Publikum und Gesellschaft. Springer VS, 2017

Diese Rezension ist zuerst im FORUM 1/2018 erschienen.


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  • Nicht-Besucherforschung – eine Untersuchung von Prof. Martin Tröndle (Hrsg.) – Publikumsschwund

    […] Tröndles einleitendes Kapitel zur Historie der (Nicht-)Besucherforschung ist erhellend, Kliment bemerkt aber das Fehlen einiger bekannter deutscher Autor*innen wie Keuchel und Reubrand (zu letzterem s. z.B. diesen Beitrag). […]