in Publikumsschwund

Weihnachtsmärchen oder Familienstück?

Weihnachtsmärchen oder Familienstück? Bild: KI MS CoPilot

Vor vielen Jahren erzählte mir der damalige Intendant des Wiesbadener Staatstheaters, Manfred Beilharz, dass die Weihnachtsmärchen eine große Belastung für die Schauspieler:innen seien, dass sie aber mit über 50 Vorstellungen im großen Haus einen ordentlichen und unverzichtbaren Beitrag für die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins lieferten.

In einem aktuellen Beitrag zum Weihnachtsmärchen untersucht Max Florian Kühlem auf nachtkritik.de ein Shitstürmchen an ebendiesem Wiesbadener Staatstheater, das in diesem Jahr „Pinocchio“ spielt und es im Spielplan als „Familienstück“ präsentiert (wie mittlerweile viele Theater).

„Ich bin doch nicht der Grinch“, dachte sich Emel Aydoğdu als der Wiesbadener Kurier in einem großen Artikel „Aufregung um Weihnachtsmärchen“ ausmachte. „Der Grund“, schreibt die Zeitung: „Unter der neuen Intendanz wird das diesjährige Weihnachtsmärchen als ‚Familienstück‘ bezeichnet.“ Bei der Aufregung stützt man sich auf Äußerungen „im Netz“. Dort werde gemutmaßt, die Bezeichnung sei gewählt worden, um keine andersgläubigen Gruppen auszuschließen. „‘Blöder vorauseilender Gehorsam. Keinen Muslim hat das die letzten Jahrzehnte gestört‘, ist einer der Kommentare.“

Max Florian Kühlem hat dann ausführlich bei verschiedenen Stadt- und Staatstheatern recherchiert. Die Lage ist unübersichtlich, ein dediziertes „Weihnachtsmärchen“ wird aber kaum irgendwo gespielt, statt dessen „Ronja Räubertochter“, „Alice in Wonderland“, „Die Schöne und das Biest“ oder „Nils Holgerson“ – keins der Stücke hat einen wirklichen Weihnachtsbezug.

Man möchte also mal wieder mit Joachim Meyerhoff ausrufen: „Wann wird es endlich wieder einmal so, wie es nie war.“

In meinem Buch „Publikumsschwund?“ habe ich mich auch mit dem Phänomen Weihnachtsmärchen aka Familienstück beschäftigt. Seit 1972 wird das Kinder- und Jugendtheater in der Theaterstatistik eigens ausgewiesen (davor waren die Zahlen Teil der Sparte „Schauspiel“).

Kinder- und Jugendtheater lt. Theaterstatistik. Quelle: Glaap: „Publikumsschwund?“

Seit den 90er Jahren (der Sprung 1995/96 resultiert aus den Zahlen der neuen Bundesländern, die hier erstmals im Fünfjahresrhythmus dieser Darstellung enthalten sind) hat es keine wesentliche Entwicklung gegeben. Die Besuche verharren trotz gestiegener Bevölkerungszahlen auf einem Niveau zwischen 2,5 und 3 Millionen Besuchen.

Welche Bedeutung das Weihnachtsmärchen aka Familienstück für die Theaterstatistik hat, sieht man deutlich an dieser Analyse für die Spielzeit 2001/02. Unter den Top 10 der Werkstatistik bei den Besuchen befinden sich fünf Familienstücke:

Auszug aus den Top 10 Schauspiel in der Spielzeit 2001/02. Quelle: Glaap: „Publikumsschwund?“

Jürgen Zielinski, langjähriger Intendant/künstlerischer Leiter des Theaters der Jungen Welt der Stadt Leipzig (2002 bis 2020), schreibt allerdings zu diesen Inszenierungen im großen Haus 2012:

„Zu hinterfragen gilt: Schielen die Stadttheater nur nach statistischer Masse oder bieten sie qualitätvolles Jugendtheater an? […] Wenn ein Stück vor 500, 600 Kindern gespielt wird, geht es teilweise an ihnen vorbei.“

Selbst unter manchen Theatermacher:innen gilt das „Weihnachtsmärchen“ also eher nicht als pädagogisch wertvoll.

Quelle: Publikumsschwund?

Wenn man aus der vertrieblichen Perspektive (ermässigte Karten) auf Theater für Kinder- und Jugendliche sowie Studierende schaut, ergeben sich folgende Zahlen:

Besuche Schüler:innen et al. lt. Theaterstatistik. Quelle: Glaap: „Publikumsschwund?“

Erkennbar ist, dass die Zahlen seit den 90er Jahren stagnieren, obwohl seitdem quasi an jedem Haus Fachkräfte für Vermittlung, Outreach und Audience Development, die Theaterpädagog:innen, eingestellt wurden. Auf die Besuchszahlen hat sich das bisher eher nicht ausgewirkt.

Quellen:

Alle Jahre bieder?, Max Florian Kühlem in nachtkritik.de, 30.11.2024

Publikumsschwund? – Ein Blick auf die Theaterstatistik seit 1949, Rainer Glaap, Springer 2024


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  • Joachim Meyerhoff über das Weihnachtsmärchen – Publikumsschwund

    […] Vor einigen Tagen habe ich in einem Blogbeitrag auf einen Beitrag auf nachtkritik.de zum „Weihnachtsmärchen“ oder auch „Familienstück“ berichtet und einige Zahlen beigesteuert. […]