
Unter dem Titel “SENSATIONELLE FLEISSARBEIT” hat Dr. Sven Scherz-Schade vom INTHEGA Kultur-Journal 3/2024 eine ausführliche Rezension meines Buches “Publikumsschwund?” verfasst.
Die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen, kurz INTHEGA, gibt es seit 1989. In ihr sind mehr als 400 Städte und Kommunen zusammengeschlossen, die abseits der großen Städte Kultur zum Publikum bringen – mit Gastspielen freier Künstler(gruppen), Tourneebühnen und Landestheatern.
In der ersten Fassung meines Blog-Beitrags hatte ich einige Zitate aus dem Beitrag eingestellt. Inzwischen hat mir der Autor dankenswerterweise gestattet, den vollen Wortlaut seines Beitrags zu publizieren.
SENSATIONELLE FLEISSARBEIT
Für sein Buch „Publikumsschwund?“ hat Rainer Glaap die Theaterstatistik seit 1949 analysiert
Einen großartigen Beitrag fürs angewandte Kulturmanagement der Theaterlandschaft in Deutschland hat Rainer Glaap mit seiner in diesem Jahr bei Springer Fachmedien erschienenen Buchpublikation „Publikumsschwund?“ geleistet. Seit den Erfahrungen der Pandemie, als das kulturelle Leben zum Erliegen kam und den Theater- und Opernhäusern das Publikum ausblieb, ließen Rainer Glaap die Schlagworte „Publikumsschwund“ und „Besucherschwund“ keine Ruhe. Über die wichtigsten Fragen wie „Warum blieben die Menschen weg?“ oder „Welche Teile des Publikums waren vom Publikumsschwund betroffen?“ wurde viel und eifrig spekuliert. Jedoch gab es – und gibt es bis dato – nur wenige empirische Studien, die dazu etwaige Antworten geben könnten. Insbesondere interessierte Glaap die häufig zitierte These, die Pandemie hätte lediglich bereits vorher bestehende Mängel und negative Entwicklungen beschleunigt und verstärkt. Zu untersuchen war also die Frage, inwiefern Publikums- und Besucherschwund nicht schon lange vor der Pandemie eine zu beobachtende Kennmarke in der deutschen Theaterlandschaft gewesen ist. Hierzu hat Rainer Glaap systematisch die Theaterstatistiken des Deutschen Bühnenvereins seit 1949 analysiert. Er hat die Daten der jeweils von der Theaterstatistik vorgenommenen Sparteneinteilung diachron untersucht, so dass sich langfristige Trends ganz hervorragend abzeichnen. Glaap versäumt nicht, diese Trends mit anderen Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens zu assoziieren, so dass etwa der Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften, die Rückgange katholischer Pfarreien und Priesterweihen, das Schrumpfen der Tageszeitungs-Abonnenten oder aber der enorme Anstieg der Abitur-Quoten seit 1950 eine wunderbar geerdete Sichtweise aufs Thema Publikums- und Besucherschwund in der Kultur ermöglicht. Die Vergleiche bieten beste Grundlagen für eingehende kulturwissenschaftliche Forschung.
Empirische Belege
Glaap weist mit Zahlenmaterial nach, dass der Publikumsschwund in den Sparten Operette, Oper, Musical und Schauspiel real ist. Er belegt aber auch, dass die Sparten Tanz, Konzert und das Kinder- und Jugendtheater stabil sind bzw. stagnieren. Insgesamt gibt es im großen theatergeschichtlichen Bogen seit 1949 immer mehr Veranstaltungen mit immer weniger Zuschauer:innen. Die Betriebszuschüsse haben sich seit Beginn der 1950er Jahre verzehnfacht.
Hochinteressant sind Glaaps Bemühungen, das reine Zahlenmaterial anschaulich in Relation zu setzen zu ganz wesentlichen Tatsachen. Etwa dass bis zur Wiedervereinigung die DDR und die BRD jeweils eigene Publikumsentwicklungen hatte. Und dass es in der DDR in den bewegten Monaten der Revolution und der darauf folgenden wirtschaftlich schwierigen Zeit einen drastischen Einbruch gab, der allerdings in vielen Darstellungen einer gesamtdeutschen Statistik oftmals nicht auftaucht. Oftmals nämlich werden für die Vergangenheit die westdeutschen Zahlen dargestellt und ab 1991 mit den gesamtdeutschen Zahlen ergänzt, so dass insgesamt statistisch ein Zuwachs abzulesen ist, der real allerdings nicht stattgefunden hat. Glaap berechnet auch unter Mutmaßung ein „Mal angenommen…“, wie sich Besuchszahlen unter Berücksichtigung der gestiegenen Einwohnerzahlen hätten steigern können bzw. müssen. Aus diesem Blickwinkel fällt der Publikumsschwund noch drastischer aus.
Blick aufs Gendering
Glaaps Analyse deckt auch anderweitig interessante empirisch belegte Fakten auf: „Die Anzahl der im Theater beschäftigten Frauen ist beständig gestiegen.“ Sie erreicht aber keine Gleichverteilung. „Die Differenz zu den Männern betrug zuletzt noch 5,6 %. Dann kam die Pandemie, die Differenz hat sich auf 9,1 % fast verdoppelt.“
Die Mär der Personalkosten
Von Brisanz ist auch der Blick auf die Entwicklung der Personalkosten, die in Debatten oft vernachlässigt oder gar falsch dargestellt wird. „Die Personalkosten sind seit 1972 von 77,8 % auf 72,3 % 2019 gesunken. Diese Zahlen sind besonders wichtig, da in der öffentlichen Diskussion immer gerne damit argumentiert wird, dass in den Theatern über 90 % (oder über 85 % oder über 80 %) der Ausgaben fixe Ausgaben für das Personal seien, an denen nicht ohne weiteres etwas geändert werden kann. Der tatsächliche Anteil der Personalkosten liegt weit darunter.“
Sensationell gemeistert
All die Zahlen herauszuarbeiten und in Relation zu setzen, sinnvolle Schaubilder und Tabellen zu erstellen, ist eine echte Fleißarbeit, die Glaap sensationell gemeistert hat. Glaap ist Jahrgang 1956, er hat einst Germanistik, Soziologie und Theaterwissenschaften studiert, hat von Anbeginn für Ideen rund ums Internet gearbeitet, gründete 2002 die Datenbank www.theaterportal.de mit Einbindung der damals führenden Ticketing-Portale Ticketonline, CTS Eventim, Reservix und anderen. Parallel dazu besuchte Glaap Seminare zum Kulturmarketing im Studiengang von Prof. Klaus Siebenhaar an der FU Berlin und im Kontaktstudium am Studiengang von Prof. Dr. Armin Klein an der PH Ludwigsburg. Klein schrieb das Vorwort für den Band. Ihm ist das Buch zum Gedächtnis gewidmet. Armin Klein ist im November vergangenes Jahr verstorben. Von 2005 bis 2019 war Glaap Product Marketing Manager für EVENTIM.Inhouse und seit 2020 ist er im „Un-Ruhestand“, schreibt und publiziert unter anderem für den Blog zum Thema Publikumsschwund, zu finden unter https://publikumsschwund.wordpress.com.
Theaterstatistik kritisch hinterfragt
Wertvoll an Rainer Glaaps Buch ist auch das Kapitel „Kurze Geschichte der Theaterstatistik“, die allen, die mit Daten und Zahlen der Bühnenkunst zu tun haben, als „Statistikkompetenz“ beherzigen sollten: Die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins stellt nur einen Ausschnitt des Theaterlebens dar! Vieles wird dort nicht abgebildet. So heißt es bei Glaap: „Keine Erwähnung finden die 416 INTHEGA-Mitglieder (Interessengemeinschaft der Theater mit Gastspielen), die teils von privaten Tourneeanbietern, teils von Landestheatern und freien Gruppen bespielt werden.“ Die erstmals 2023 von der INTHEGA in Auftrag gegebene Theaterstatistik lässt Rückschlüsse zu, die für die Spielzeit 2018/19 etwa 3 Mio. Besuche annehmen. Glaap nennt Zahlen aus vergleichenden Untersuchungen der Theaterstatistik von 1983, wo für INTHEGA-Häuser 6.595.000 Besuche angenommen werden. Auch in der Gastspielbranche würde sich demnach ein Rückgang der Besuchszahlen abzeichnen.
Zukunftsfragen
Beeindruckend endet Rainer Glaap sein Buch „Publikumsschwund?“ mit dem Kapitel „Wie könnte es weitergehen?“ Glaap überzeugt auch hier mit guten zukunftsweisenden Fragen, die unter anderem nahelegen, dass Potenziale von Audience Development und verbessertem Marketing noch längst nicht ausgereizt, ja mancherorts womöglich noch gar nicht systematisch angegangen wurden. Auch steht die Frage im Raum, ob die Ensemblebetriebe prinzipiell oder teilweise in andere Spielorttypen gewandelt werden können, um einen vernetzten Austausch von Produktionen zu ermöglichen. Und zum großen Lob verfällt Glaap nicht in den – leider beim Thema oftmals bemühten – kulturpessimistischen Tonfall von der „Krise“ des „Theatersystems“. Wer an der Zukunftsfähigkeit der Theaterbetriebe interessiert ist, sollte Glaaps Lektüre unbedingt lesen.
Dr. Sven Scherz-Schade
Eine Theaterstatistik für die INTHEGA-Mitglieder ist vom Verband geplant, liegt aber noch nicht vor. Zuletzt wurden Daten für die vom Bühnenverein so genannten „theaterlosen Städte“ in einer vergleichenden Untersuchung in den 1980er Jahren publiziert. Ich habe in „Publikumsschwund?“ der (vielfach unterschätzten) INTHEGA ein eigenes Kapitel gewidmet mit dieser Grafik:
Aktuell wird die Anzahl der Besuche in INTHEGA-Häusern auf ca. 3 Millionen pro Jahr geschätzt.
Quelle: INTHEGA Kultur-Journal 2024 44. Jahrgang | Nr. 3 / 2024 (S. 47/48): https://www.inthega.de/media/download/variant/97991/kultur-journal-3-2024.pdf
Entdecke mehr von Publikumsschwund
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
Webmentions
[…] in Städten mit Gastspielbetrieb [Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen – INTHEGA, RG], kommerzielle Veranstalter oder freie Gruppen. Hier gibt es bisher nur unzureichend valides […]