in Publikumsschwund

Mehrsprachigkeit im Theater (Essay auf nachtkritik.de)

Hannes Becker hat bei nachtkritik.de einen klugen Essay über die Vielschichtigkeit des Themas „Mehrsprachigkeit“ am Theater veröffentlicht.

Aus dem Berliner Maxim Gorki Theater kenne ich Mehrsprachigkeit auf der Bühne seit Jahren. Mit dem gemischten Ensemble mit vielen unterschiedlichen Muttersprachen wird auch auf der Bühne wunderbar (wie ich finde) umgegangen. Übertitel weisen meist den Weg. In der Berliner Schaubühne gibt es häufig (englische) Übertitel, ob immer, kann ich nicht beurteilen, dafür bin ich (leider) zu wenig in Berlin.

Als am Theater Bremen das Team um Michael Börgerding 2012 startete, gab es im Schauspiel-Ensemble Zuwachs aus den Niederlanden mit Annemaaike Bakker (die herrlich auf Niederländisch fluchen konnte als Marie im Woyzeck). Einige Spielzeiten später kam Fania Sorel aus Belgien (über das Rotterdamer Ro-Theater), der in den Anfangsjahren gelegentlich in der Kritik fehlende Sprachkenntnisse oder ihr Akzent angekreidet wurden (wie ich fand: zu Unrecht). Mehrsprachige Aufführungen gab es meiner Erinnerung nach im Bremer Schauspiel bisher nur sehr selten, auch Wajdi Mouawads „Vögel“ wurden nicht in einer (andernorts) mehrsprachigen Version aufgeführt, sondern auf deutsch, einer der Gast-Schauspieler hatte seine komplette Rolle phonetisch gelernt, das fand ich eher störend. Im sehr erfolgreichen Stück „Istanbul“ werden viele türkische Lieder vom deutschen Ensemble auf türkisch gesungen – die Lieder wurden phonetisch einstudiert (wie häufig in der Oper). Einzig das Tanztheater Gintersdorfer/Claassen operiert immer mehrsprachig, i. d. R. übersetzt Matthieu Svetchine aus dem Bremer Schauspiel-Ensemble. Neu im Spielplan ist seit letzter Spielzeit die berührende Produktion ÂŞIKLAR – DIE LIEBENDEN von Nihan Devecioğlu, in der mit Liedern und Texten das Leben von Gastarbeiterinnen in Bremen porträtiert wird. Das erreicht auch Publikum mit migrantischem Hintergrund, daran erkennbar (auch wie in Vorstellungen von Istanbul), dass das Publikum bei einigen Liedern einstimmt.

Mehrsprachigkeit bedeutet eine Öffnung für ein anderes und vielfältigeres Publikum. Auch Kinos bieten als Zugeständnis an ein vielfältigeres städtisches Publikum zunehmend Vorstellungen an im Original (OV) und mit Untertiteln (OmU). Im Theater müssten allerdings auch die Stoffe, die verhandelt werden, eine Relevanz für dieses neue Publikum haben, englische Übertitel reichen dafür kaum.

Zurück zu Hannes Becker, der die Mehrsprachigkeit aus Sicht von Autoren, Mitspielenden und Publikum vielfältig beleuchtet.

Mehrsprachigkeit (ob im Theater oder anderswo) ist direkter Ausdruck für die Diversität der Lebenswirklichkeiten einer Gesellschaft – und für die Verbundenheit dieser Wirklichkeiten. Denn Merkmal linguistischer Mehrsprachigkeit ist nicht allein die Präsenz und das Nebeneinander verschiedener Sprachen. Entscheidend ist vor allem die Erfahrung des Übergangs von einer Sprache zur anderen und zurück, die Anpassung des „Richtigen“ an das „Erforderliche“, die pragmatische Dimension eines Sprachgebrauchs, der nach immer neuen Regeln spielt und erlernte Regeln notfalls verwirft und verändert.

Er verweist auch auf die Hierarchisierung von Sprachen, die mehr oder weniger Ansehen in der Gesellschaft haben und zitiert die Autorin Olga Grjasnowa mit ihrem Buch „Die Macht der Mehrsprachigkeit“ (Link zur Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung):

Einige wenige Sprachen haben heute einen hohen Marktwert, und zwar solche, die für den Bildungserfolg und die Karriere nützlich erscheinen. Während diese durch Kurse erlernt und durch Tests und Zertifikate bestätigt werden, gelten viele andere in Deutschland eher als Integrationshindernisse.

Eine Sprache, die Hannes Becker allerdings nicht erwähnt, ist die Gebärdensprache, die nur selten zum Einsatz kommt, z. B. in der Inszenierung von „Einer flog über das Kuckucksnest“ (2023) des RambaZamba-Theaters.

Quelle: „Muttersprache: mehrere“ von Hannes Becker auf nachtkritik.de


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