Rede auf der Frankfurter Dramaturgentagung 1964
Um also vom Theater zu sprechen, nehmen wir einmal an: das Theater, das Sie als Intendant betreuen, als Dramaturg beraten, als Kritiker überwachen, nicht das Theater als Begriff, sondern ganz konkret und lokal: Ihr Theater, das vertraute Haus an der Sowiesostraße, genau dieses eine Theater, das Sie im Grunde meinen, wenn Sie im Lauf dieser Tagung sprechen von Ihren grundsätzlichen Erfahrungen und Forderungen und von jenem Theater schlechthin, das es solang wie unser Menschengeschlecht geben wird; ist über Nacht geschlossen worden. Außer Betrieb. Sie wissen’s nur noch nicht. Gestern noch eine ausverkaufte Vorstellung, ich glaub’s; die Schauspieler haben sich verneigt, später abgeschminkt, später wurden Türen und Tore geschlossen wie üblich, und heute vormittag, während Sie hier festlich in der Paulskirche sitzen, hat niemand einen Schlüssel mehr. Und was noch erstaunlicher ist: man teilt es Ihnen nicht einmal mit. So außer Betrieb ist plötzlich das Theater. Und nicht nur das Ihre; auch die Kollegen, die hier neben Ihnen sitzen, wissen es nur noch nicht… Sie würden es einfach nicht glauben, ich weiß, und gerade das lockt mich zu dieser Vorstellung: Ihr Haus, sei es ein altes mit Glanz der Zwanzigerjahre im Kronleuchter oder ein neues, eben erst erbaut in Stahl-Beton-Glas mit Ausmaßen, die dem Aufschwung auf anderen Gebieten entsprechen, das Haus steht unversehrt, brauchbar wie das Theater von Epidauros, ebenso still. Nicht einmal ein Pförtner ist mehr da, wenn Sie von dieser, wie wir hoffen, lebendigen Tagung heimkehren. Ein Passant vielleicht, den Sie um Auskunft bitten, kann sich erinnern, daß hier einmal Theater gespielt worden ist, und geht freundlich weiter, als wären die Zeiten des Theaters vorbei. Nur Sie glauben noch daran und stehen da, Intendant eines Denkmals, von Tauben umgurrt. Denken Sie jetzt nicht: Der Staat hat seine Zuschüsse gestrichen. Das ist es nicht. Das kann der Staat sich gar nicht leisten, solange er unsere Steuern braucht auch für Tanks und Düsenbomber; auch diese werden manchmal fehlgesteuert. Machen Sie sich keine persönlichen Gewissensbisse, daß Sie in letzter Zeit vielleicht (ich weiß ja nicht) allzuviel auf GastRegie reisten. Das ist es auch nicht.
Quelle: Max Frisch. Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, 1964-1967. Band V,2
Der Text wird wunderbar vorgetragen von Matthias Brandt in einem Lockdown-Film des Berliner Ensembles.
Max Frisch widmet sich in dieser Rede, die er 1964 bei der Dramaturgentagung in Frankfurt/Main gehalten hat, mit einem Gedankenexperiment, in dem die Theater geschlossen sind, der Frage: Was fehlt eigentlich ohne Theater? Fast 60 Jahre später ist das Gedankenexperiment Realität geworden und Frischs Überlegungen vielleicht dringlicher denn je. Matthias Brandt entdeckte den Text, zusammen mit dem Filmemacher Andreas Deinert erarbeitete Brandt anschließend diesen fünzehnminütigen Film für das Berliner Ensemble.
https://www.berliner-ensemble.de/matthias-brandt-der-autor-und-das-theater

Den Hinweis auf den Text von Max Frisch verdanke ich der Rede von Carsten Brosda auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins.
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