
Gastbeitrag von Dieter Haselbach und Peter Matzke (zuerst erschienen am 10.8.2023 in Die Welt), mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
Früher wartete man ewig auf Tickets für die Bayreuther Festspiele – heute kann man sie spontan online kaufen. Was ist da los? Unsere Autoren, Kulturwissenschaftler, haben dazu eine Studie analysiert. Sie zeigt, wie unterschiedlich die Deutschen auf steuerfinanzierte Eliten-Events blicken.
Zur Eröffnung der Wagner-Festspiele in Bayreuth kam die Hiobsbotschaft. Es gibt noch Karten! Das war viele Jahrzehnte anders: Nach einem Antrag auf eine Karte in Bayreuth musste man oft Jahre warten, bis die Zuteilung kam. Nur die Premieren-Prominenz, für die der rote Teppich ausgerollt wird, hatte keine solchen Probleme. Der bayerische Ministerpräsident hat hier einen Pflichttermin, genauso wie die Kulturstaatsministerin. Kanzlerin Merkel war immer da, Kanzler Scholz allerdings gestaltet seine Freizeit anders.
Da Theaterbesucher wie bei vielen anderen Kulturveranstaltungen nicht vorher wissen, was sie erwartet, kann es an der Qualität der Inszenierungen nicht liegen. Über sie erfährt man nur durch den Besuch selbst, oder nachträglich aus den Feuilletons, aber dann war es für die Entscheidung über den Besuch zu spät. Es muss also eine andere Erklärung für das nachlassende Publikumsinteresse geben. Covid kann es nicht mehr sein. Was also ist los in Bayreuth?
Von den Mutmaßungen im Feuilleton hier nur die eine ökonomische von Ralph Bollmann in der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (FAS): Erst die Knappheit der Tickets habe Bayreuth so attraktiv gemacht. Was knapp sei, werde als wertvoll wahrgenommen. Die Nachfrage folge der langen Wartezeit. Ist das eine Strategie gegen Publikumsschwund?
Wir möchten ein wenig tiefer schürfen. Die Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte im Mai einen von Forsa erarbeiteten „Relevanzmonitor Kultur“, der Auskunft über den „Stellenwert von Kulturangeboten in Deutschland“ geben will. Hier wird grundsätzlicher dargestellt, was das Publikum von der Hochkultur – vor allem um sie geht es in der Studie – denkt und wie es handelt oder wenigstens handeln möchte.
Die Studie wurde in der einschlägigen Fachpresse so aufgenommen, wie die Bertelsmann-Stiftung es vorgab: Hochkultur hat einen großen Rückhalt in der Bevölkerung, die Bevölkerung möchte, dass Förderung fortgeführt wird. Alles ist gut! Nur: Warum pilgert die Bevölkerung nicht nach Bayreuth?
Interessant ist bereits der Ansatz beziehungsweise das „wording“ der Studie, wie es neudeutsch heißt: Es werden „Freizeitaktivitäten“ und „Freizeitangebote“ analysiert. Die Angebote von Theatern, Konzert- und Opernhäusern werden wie selbstverständlich darunter subsumiert.
Für den Alltagsverstand wie vielleicht für Soziologen ist das richtig: Nur die Fachkollegen und die Kritiker gehen berufsmäßig, sonst gehen Menschen in ihrer Freizeit in Kulturveranstaltungen.
Kultur ist Pflicht?
Als allerdings während der Corona-Krise um den Stellenwert von Kultur debattiert wurde, verwahrten sich die Lordsiegelbewahrer der Hochkultur vehement dagegen, Kultur und „Freizeit“ in einem Atemzug anzusprechen: So Hamburgs Kultursenator Brosda am 2. November 2020 auf zeit.de: „Denn wer Kultur mit Unterhaltung und Zerstreuung gleichsetzt, zerstört jene Fundamente, auf die demokratische offene Gesellschaften gegründet sind.“ Kultur ist also Pflicht!
Nach Bayreuth geht man nicht zur Freude an Wagners Musik und der Inszenierung, sondern als demokratischer Staatsbürger, heute vielleicht dann auch: um die Brandmauer gegen den Rechtspopulismus zu befestigen.
Wenn der Kulturbesuch nicht Freizeit, sondern demokratische Staatsbürgerpflicht ist, lässt sich ein Ergebnis der Forsa-Umfrage besser einordnen. Ein überwältigender Anteil der Befragten (82 Prozent) gibt an, dass Hochkultur Werte spiegelt, die zur kulturellen Identität Deutschlands gehörten. Dazu passt die Überzeugung von 76 Prozent der Befragten, dass Hochkultur weiter mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren sei.
Schwieriger allerdings wird es, wenn man aus der Umfrage erfährt, dass nur ein Drittel sagt, diese Kultur sei wesentlicher Bestandteil des eigenen Lebens. Festzuhalten ist so: Eine deutliche Mehrheit der Befragten glaubt, dass Hochkultur essenzielle Werte vermittelt, aber sie empfinden diese Werte zum überwiegenden Teil als nicht relevant für ihre eigene Freizeitgestaltung.
Zwei Erklärungen bieten sich an: Die eine, kulturökonomische, ist recht einfach. Die hohe Zustimmung zu öffentlicher Förderung folgt demnach aus einem Interessenkalkül der Befragten. Sie wollen sich die Option zur Nutzung offenhalten, auch wenn sie aktuell die Angebote nicht nutzen, in der Freizeit andere Prioritäten haben. Die These vom Optionsnutzen allerdings erklärt nicht, warum es so hohe Zustimmungswerte zur Bedeutung der Hochkultur für die kulturelle Identität gibt.
Eine andere Erklärung geht von der Beobachtung aus, dass in Befragungen Menschen dazu neigen, die Antworten zu bevorzugen, die ihnen als in diesem Kontext gewünscht und angemessen erscheinen. Das erspart die Mühe des Widerspruchs.
Was aber ist in der Forsa-Befragung das Gewünschte? Seit sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die Unterscheidung von U- und E-Kultur herausbildete, wurde in den einschlägigen Erklärmustern permanent eine moralische Konnotation beider Seiten mitgeliefert: Eine repräsentiert die anspruchsvolle, tiefe, ernste Kultur mit Ewigkeitsanspruch. Die andere steht für belanglose, seichte, vergängliche Gebrauchskultur ohne Eigenwert.
So wird und wurde Mehrheiten, die in ihrer Freizeit von Wagner nicht gelockt werden, suggeriert, dass sie bereits durch ihren Kulturkonsum als intellektuell und moralisch minderwertig gelten.
Als Teil einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft nehmen sie diese Herabwürdigung hin, finden sich mit der Tatsache ab, dass das, was sie als gut und schön empfinden, von minderer Qualität zu sein scheint und sie eigentliche künstlerische Werte offenbar nicht zu erkennen in der Lage sind. Das aber in einer Befragung zu zeigen, wird kaum als wünschbare Antwort gelten.
Die meisten kennen sich nicht aus
So mag es sein, dass die Befragten in großer Mehrheit eher gewünschte Antwort gaben, in ihrem Verhalten allerdings lieber den eigenen Präferenzen folgen. Eine Mehrheit (64 Prozent) immerhin meint, sich in Kunst und Kultur nicht sehr gut auszukennen. Dass sie sich hier sehr gut auskennen, meinen nur 4 Prozent der Befragten.
Weitere Ergebnisse der Forsa-Umfrage lassen sich vor diesem Hintergrund gut einordnen. Die weitverbreitete Ansicht etwa, der zufolge vor allem Hochkulturangebote von Gebildeten und Gutverdienern goutiert würden, wird von der Umfrage nicht gestützt.
Sie zeichnet (ohne die reichsten 10 Prozent direkt abzubilden) ein differenziertes Bild: Besserverdienende sind demnach ebenso wie Gebildete keinesfalls überdurchschnittlich nur Besucher von Hochkulturangeboten. Vielmehr stellen beide Gruppen in allen untersuchten Bereichen der Freizeitgestaltung vom Kino über nichtklassische Konzerte bis hin zu den verschiedenen Sparten der Hochkultur überproportional viele Besucherinnen und Besucher.
Bildung fördert das Interesse an jeder Art von kultureller Freizeitgestaltung. Aber man muss sich jede Art von Kultur auch leisten können. Unstrittig ist die hohe Frequenz der Hochkulturbesuche dort, wo Bildung und Lebensalter zusammentreffen. Bei Oper und klassischem Konzert fällt das Interesse bei den Unter-60-Jährigen deutlich ab.
Ein weiteres, eher überraschendes Ergebnis der Forsa-Untersuchung: Dass ein erhebliches kulturelles Gefälle zwischen den urbanen Räumen und dem „flachen Land“ besteht, wird allgemein als Tatsache gesehen. Die Kulturfinanzstatistik bestätigt dies: Je kleiner die Kommune, desto geringer der Pro-Kopf-Aufwand in der öffentlichen Kulturförderung.
Es ist so nicht überraschend, dass auch in dieser Untersuchung 53 Prozent der Bewohner von Kommunen mit weniger als 5.000 Einwohnern das lokale Kultur- und Freizeitangebot als schlecht einschätzen, während 88 Prozent der Bewohner von Großstädten ihres prinzipiell gut finden.
Kulturgenuss eher passiv als aktiv
Allerdings: Bei der Frage nach der „Nähe zu verschiedenen Freizeitangeboten“ stellt sich heraus, dass sich die durchschnittliche Zeit, etwa zum nächsten Theater zu kommen, für Bewohner von Stadt und Land gar nicht signifikant unterscheidet: 35 Minuten brauchen Menschen in Kommunen unter 5000 Einwohnern, bei Metropolenbewohnern sind es durchschnittlich 28 Minuten.
Nach der Forsa-Untersuchung brauchen 80 Prozent der Deutschen bis zum nächsten Theater weniger als 60 Minuten, 88 Prozent weniger als 90 Minuten. Sprechen diese Zahlen dafür, das Gefälle zwischen Stadt und Land nicht so ernst zu nehmen? Sind Menschen in Deutschland womöglich in der Lage, Kulturangebote eigenständig zu erreichen, wenn sie ihre Freizeit so verbringen möchten? Starke Anzeichen hierfür bietet die Forsa-Untersuchung allerdings.
Die Studie legt den Schwerpunkt auf den Kulturbesuch, nicht auf die eigene kulturelle Aktivität der Befragten. Zu Recht: Die eine Frage nach der eigenen Aktivität der Befragten kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: Außer Musik hören und Bücher lesen werden alle anderen abgefragten Aktivitäten (musizieren, singen, tanzen, Theater spielen) nur von jeweils weniger als 10 Prozent der Befragten wöchentlich oder öfter praktiziert.
Ein Bereich der Kultur allerdings wird weder als Aktivität noch als Besuchsort in der Forsa-Befragung berücksichtigt: die Clubkultur. Hier dürfte es sowohl bei der Alters- als auch bei der sozialen Verortung des Kulturkonsums andere Ergebnisse geben.
Was lässt sich aus dem „Relevanzmonitor Kultur“ für Bayreuth lernen? Zunächst einmal, dass ein großer Teil der Bevölkerung weder von klassischer Musik noch von Oper, Ballett, Tanztheater erreicht wird: 37 Prozent geben an, Veranstaltungen dieser Art nie besucht zu haben.
Ein zweiter Punkt ist, dass das typische Publikum für solche Veranstaltungen bei den Älteren, den Wohlhabenderen, den Gebildeten zu finden ist. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung findet zwar Theater und wahrscheinlich auch das jährliche Sommerereignis in Bayreuth gut im Sinne von: „gut, dass es so etwas gibt“. Aber die knappe Freizeit dafür verwenden: eher nicht.
So ist es vielleicht nicht falsch, dem Rat des oben erwähnten Journalisten Ralph Bollmann zu folgen und das hochkulturelle Angebot, eben auch in Bayreuth, zu verknappen. Vielleicht erhöht das die Attraktivität der hochkulturellen Angebote, vielleicht führt es auch lediglich dazu, dass das Angebot der tatsächlichen Nachfrage und nicht der geäußerten Wertschätzung entspricht.
Wenn damit Mittel in der Förderung der Hochkultur eingespart werden, umso besser: Im Kultursektor gibt es genug Interessantes, Innovatives und Förderwürdiges, wo die frei werdenden öffentlichen Mittel eingesetzt werden können. Vielleicht sogar so, dass in krisenhaften Zeiten die Kultur wieder für die demokratischen Mehrheiten relevant zum Diskurs über kulturelle Identität beiträgt.
Dieter Haselbach ist Direktor des Zentrums für Kulturforschung in Berlin, Peter Matzke ist Geschäftsführer des Krystallpalast Varieté in Leipzig.
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