in Publikumsschwund

Freie Szene und institutioneller Förderbetrieb. Vom Nutzen und Nachteil von Förderung – Prof. Dieter Haselbach

Vortrag von Prof. Dieter Haselbach (Zentrum für Kulturforschung) bei der Veranstaltung „Kultur Kollaps“ im Felsenkeller in Leipzig am 21. November 2022 (Teil einer Reihe von Veranstaltungen zu „Gegenwart und Zukunft von Kultur und Kulturpolitik“). Dieter Haselbach ist Mitautor des 2012 erschienenen Buches „Der Kulturinfarkt“.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Vor der Krise

Kulturfinanzen

Vor der Krise war die Welt der Kulturpolitik in Ordnung. Wenigstens für einige. Kulturpolitik ist Kultuförderpolitik Also werfen wir einen Blick auf die Struktur der Kulturförderung. Regelmäßig veröffentlicht das Statistische Bundesamt den „Kulturfinanzbericht“, der informiert über die öffentlichen Ausgaben für Kultur.

Die Entwicklung der Kulturfinanzen vor der Krise stellen sich hier dar:

Der öffentliche Kulturetat steigt regelmäßig, meist über die Geldentwertungsrate. Bund, Länder und Gemeinden tragen ihren Anteil. Der größte Anteil liegt bei den Gemeinden, der des Bundes wächst seit einigen Jahrzehnten überproportional. — Vielen Geförderten geht es gut.

Ein Blick auf die Verteilung der Ausgaben auf Sparten zeigt, wo das Geld hinfließt. Von den 13,6 Mrd. Euro öffentlicher Gelder im Jahr 2017 flossen 34,5 Prozent in den Bereich Theater und Musik, 14,1 in Bibliotheken, 19,1 in Museen und Ausstellungsbetrieb; das sind die großen Ausgabenposten. Die Ausgabenstruktur beim Bund weicht ab: Er übernimmt keine Verantwortung für Theater, aber finanziert die auswärtige Kulturpolitik. In den Kommunen geht knapp die Hälfte des Geldes in den Bereich Theater und Orchester.

Einiges zeigt der Kulturfinanzbericht nicht. 

Da sind zunächst die Eigeneinnahmen der Kulturinstitutionen, die Eintrittserträge, das Sponsoring etc. Gehen wir kurz durch die Hauptbereiche

  • Im Theater- und Musikbetrieb gibt die Theaterstatistik Auskunft. In der letzten Vor-Covid-Saison haben die öffentlichen Theater 17,7 Prozent ihrer Kosten eingespielt. Auf jedem verkauften Ticket lag ein Zuschuss von 141,15 Euro, Tendenz steigend.
  • Im Bibliotheksbereich spielen eigene Erträge eine verschwindende Rolle
  • Bei den Museen und Ausstellungen ist mir eine zusammenfassende Zahl nicht bekannt. Eine ältere qualifizierte Schätzung ist mir im Kopf, danach sind ca. 10 Prozent der Museumskosten durch Eintritte finanziert.

Zweite große Fehlstelle im Kulturfinanzbericht ist der private Bereich, also der, der von öffentlicher Kulturfinanzierung nicht erreicht wird. Es wurde in den vergangenen Jahren viel über die Kulturwirtschaft diskutiert. Es wäre einen eigenen Vortrag wert, über Konstrukt, Begriff, Größe und Bedeutung von Kulturwirtschaft zu sprechen. Mit aller Vorsicht lässt sich sagen, dass die Kulturwirtschaft, selbst wenn man nur eng die kulturnahen Bereiche nimmt, um Dimensionen größer ist als der öffentliche Kulturbereich.

Schließlich gibt es noch einen Bereich, für den schon der Name in der Literatur umstritten ist. Nennen wir ihn den „intermediären“ oder frei-gemeinnützigen Bereich. Hier sind Vereine, private Initiativen unterhalb der Schwelle des Unternehmens, Laien etc. etc. zu finden. Über Bedeutung und Dimension ist wenig bekannt.

In der ordentlichen Welt sortiert sich Kultur begrifflich somit in drei Bereiche. Kulturförderung hat mit dem öffentlichen Bereich zu tun, daneben gibt es die Kulturwirtschaft und jenen gemeinnützigen Bereich. In einem Schaubild wird dies so dargestellt und so ist das Bild normalerweise auch in den Köpfen der Politiker und Verbandsvertreter:

Vor vielen Jahren habe ich in einer Untersuchung zur Kulturwirtschaft einmal versucht, die Bereiche zu dimensionieren. Damals ging es um die Musikwirtschaft, auf der Basis von Zahlen aus Niedersachsen. Ohne zu beanspruchen, dass die Verhältnisse verallgemeinerbar sind, oder dass sie so für alle Sparten gelten, möchte ich sie hier kurz vorstellen, nur um das ordentliche Bild zu Kultur- und Kulturwirtschaft ein wenig zu erschüttern.

Für die Musikwirtschaft ist dies eine Standard-Tortengrafik, die etwa die Umsatzanteile darstellt. Die statistische Basis einer solchen Darstellung ist schwierig, aber das Bild einigermaßen realistisch. 

Komplexer Mix von Öffentlich, Projektförmig, Privat

Wir haben es mit einem komplexen Mix von öffentlicher Kultur (sie ist Gegenstand der Kulturpolitik) und privater Kultur zu tun. Die Künstlerinnen, also die Produzenten, arbeiten, wo sie keine Anstellung in der öffentlichen Kultur gefunden haben, in beiden Bereichen. Die Grafik zeigt dies dadurch, dass die Linien der drei Sektoren im zweiten Schaubild nicht bis in den Kern, in dem die Künstler arbeiten, durchgezogen sind. 

Der Mix ist in jeder Kultursparte anders. Bildende Künste und Literatur sind wesentlich privatwirtschaftlich organisiert. In den darstellenden Künsten ist der Anteil des öffentlichen Bereichs deutlich größer. Film ist ein eigenes Kapitel mit komplexer Förderlandschaft und einem komplexer werdenden privatwirtschaftlichen Umfeld. Die im Schaubild gezeigte Musik ist ebenso komplex, es gibt einen sehr großen privaten Bereich und einen heftig öffentlich gestützten Bereich, dieser allerdings mit einem sehr engen Programmspektrum.

Ich will jetzt einen Blick in den Kern werfen und die Beschäftigungsverhältnisse dort, wo Kunst entsteht. Es gibt außer dem Arbeiten in privatwirtschaftlichen Strukturen und außer der Anstellung im öffentlichen Sektor einen wachsenden Bereich, in dem sich öffentliche Hände zwar engagieren, aber eben in einer dritten Weise. Ich spreche von Projekten. Projekte sind erst einmal etwas Wunderbares. Es kann in der Projektform probiert werden, es kann Neues, nie Gewesenes entstehen. Projekte stehen nicht unter demselben Rechtfertigungsdruck wie Institutionen, stehen nicht so unter wirtschaftlichem Druck wie private Unternehmen.

Die Wirklichkeit ist aber oft eine andere. Es ist unter der Form der Projekte ein ganzer Kultursektor gewachsen, für den die Projektform der Beschäftigung die Norm geworden ist. Hier lösen Projekte einander ab, in der Folge der Projekte entstehen prekäre Quasi-Institutionen, für die nicht nur der Innovationsdruck eine Falle wird, sondern die auch einen erhöhten Druck daraus erfährt, dass Projekte jeweils einzeln oder in Kombination beantragt, durchgeführt, abgerechnet werden müssen, dies ein großer Aufwand neben der unmöglichen Aufgabe, stetig innovativ zu sein.

Projekte sind die Form, in der in der geförderten Kultur Neues entsteht. Das Neue entsteht halb versteckt, nicht offen. Es soll das Bestehende nicht infrage stellen. Und doch soll es sein, aber eben nicht als Ersatz von Altem, Abgelebtem, Überholtem, sondern es soll zusätzlich da sein, ohne Kritik am Bestehenden.

Arbeit in der Projektkultur schafft ihre eigenen Widersprüche. Neben der unsteten Beschäftigung (es gibt Zeiten zwischen den Projekten), dem ständigen Druck und der ständigen Unsicherheit zeigt die Projektkultur typischerweise Unterbezahlung, schlechte soziale Absicherung und einen ungeheuren Verschleiß von Arbeitskraft für die Antrag, Abwicklung, Abrechnung in einer Form, die öffentlicher Rechnungsprüfung genügt. — Viel von der Projektkultur ist eine kulturpolitische Lebenslüge. Längst geht es nicht mehr um Projekte als explorative Ausnahme, um die Expedition in neues kulturelles Land, sondern es geht um eine zweite, aber eben prekär finanzierte Infrastruktur neben den öffentlichen Institutionen.

Einkommen und soziale Absicherung

Kurz wenigstens ist auf die soziale Absicherung künstlerischen Arbeitens in Deutschland einzugehen. Deutschland ist ein Sozialstaat, normale abhängige Beschäftigung ist, wenn das Einkommen über dem Mindestlohn liegt, vergleichsweise gut abgesichert. Das gilt natürlich für die Anstellung im öffentlichen Kultursektor und das gilt, wo es um Anstellung geht, auch in der Privatwirtschaft.

Aber: typisch für viele künstlerische Arbeitsfelder ist die Selbständigkeit oder eben die unstete Beschäftigung. Hierfür hat der deutsche Sozialstaat keine hinreichenden sozialpolitischen Antworten, nicht nur in den Künsten, sondern überall, wo in der Form der Selbständigkeit kleine Einkommen erwirtschaftet werden. Natürlich gibt es die Künstlersozialkasse. Aber erstens ist sie sehr restriktiv bei der Aufnahme ins Versicherungsverhältnis, das deckt bei weitem nicht den Bereich der künstlerischen und kunstnahen Beschäftigung ab. Zweitens sind hier die durchschnittlich erzielten Einkommen kaum ausreichend, um den Alltag zu meistern, noch weniger aber in Richtung auf eine auskömmliche Alterssicherung. Es wird so zwar in Kassen eingezahlt, aber es ist auch häufig genug so, dass am Ende des Berufslebens dann doch die Sozialhilfe steht. Drittens ist die Künstlersozialkasse strukturell falsch konstruiert: Anstatt Selbständige zu versichern, konstruiert sie quasi-Beschäftigungsverhältnisse, die es faktisch nicht gibt und folgt einer Logik, die den Kultursektor zusätzlich belastet und auch noch eine eigene Kontrollbürokratie erfordert, um die fiktiven Arbeitgeber zu kontrollieren und dort Beiträge einzutreiben. 

Klar ist so: Die Projektekultur belässt Menschen in sozialer Unsicherheit.

Gesamtpaket nicht in sich schlüssig

Ich fasse diesen Teil meines Vortrags zusammen: Schon vor Covid und der damit ausgelösten akuten Krise war das Gesamtpaket der kulturpolitischen Förderung in sich nicht schlüssig. Die Verteilung der Gelder folgt nicht überall einer klaren kulturpolitischen Aufgabenstellung. Institutionelle Sektoren sind deutlich überbesetzt.

Der Bereich der öffentlichen Theater absorbiert — vergleicht man mit Kulturförderungssystemen in anderen Ländern — einen sehr großen Teil öffentlicher Mittel, erreicht dabei ein sehr begrenztes Publikum.

Auch im Bereich der Museen und des kulturellen Erbes leistet sich Deutschland viel: Das Berliner Institut für Museumsforschung zählt knapp 6.800 Museen in Deutschland, das sind mehr als zehn Prozent der in der Welt gezählten Museen für ein Hundertstel der Weltbevölkerung (beide Zahlen allerdings sind statistisch recht weich und schwer zu überprüfen).

Bibliotheken sind eine öffentliche Aufgabe. Sie stehen — auch im Zeichen der Digitalisierung — unter einem gewaltigen Veränderungsdruck.

Die Projektkultur hat sich zu einem eigenen Sektor entwickelt, sie schafft prekäre Beschäftigungs- und Arbeitsverhältnisse. Aber von hier erwachsen viele Innovationen in allen Sparten und Tätigkeitsfeldern der Kultur.

Krise strukturell

Steuerung in der Kulturpolitik

Das System der öffentlichen Kulturpolitik wird nicht und kann nicht als System gesteuert werden. Es sind zu viele Akteure im Feld, es gibt sehr unterschiedliche Artikulationsmöglichkeiten dieser Akteure. Als Resultat besteht ein System, das fast nicht reformfähig ist. Schlimmer noch: das Kulturfördersystem ist durch Veränderungen in der Umwelt kaum noch irritierbar.

Ich will nur einige Charakteristika des Systems kurz ansprechen.

  • Der deutsche Kulturföderalismus (die prinzipielle Zuständigkeit der Länder, mit Delegation von kulturpolitischen Entscheidungen an die Kommunen) bringt mit sich, dass Fördergeber jeweils nur in ihrem eigenen Handlungslogiken agieren.
  • Der Bund wird als Geldgeber immer wichtiger, ist aber in weiten Bereichen dadurch gebunden, dass er wegen der in der Verfassung verankerten Kulturhoheit der Länder nur Projekte, keine Strukturen fördern kann (und wohl auch nicht will). Damit gibt es auch eine Bundesprojektitis.
  • Die geförderten Institutionen sind meist von kommunalen oder Landes-Haushalten abhängig. Aber einige Sparten haben sich umfassend und meinungsstark aufgestellt, so dass sie einen überdurchschnittlichen Einfluss auf öffentliche Meinung haben. Das verengt Handlungs- und Entscheidungsräume gerade für lokale Politik.
  • Die Projektekultur muss ohne Lobby auskommen: Sie hat weder Kraft noch Kapazität und Reichweite für eine wirkungsvolle Artikulation kulturpolitischer Positionen
  • Die kulturpolitische Diskussion ist von Interessenartikulationen geprägt, mit denen die dominante Stellung der großen Akteure gestützt wird. Es spielt die Artikulationsfähigkeit der Institutionen mit der Zersplitterung der Förderungslandschaft zusammen.

In dieser Konstellation ist Kulturpolitik tendenziell strukturkonservativ, Innovationen scheitern an der Klippe von Interessen. Kulturpolitische Veränderung geschieht fast nur durch Anlagerung, durch Erweiterung, nicht durch Veränderung.

Man könnte zuspitzen: Der Kultursektor ist wachstumssüchtig, kann sich nur unter der Bedingung von wachsenden Zuschüssen entwickeln. Damit ist er Teil eines Gesamtsystems des Wirtschaftens, von dem wir inzwischen wissen, dass es nicht nachhaltig ist.

Veränderung in der Kulturrezeption

Blicken wir auf das Kulturpublikum. Eine Publikums-Krise der öffentlichen Kultur, insbesondere des öffentlichen Theater- und Konzertbetriebs war schon vor Corona offensichtlich. Das alte Programm ist gescheitert. Seit mehr als 50 Jahren verspricht der geförderte Sektor „Kultur für alle“. Gefördert aber werden immer weiter Einrichtungen und Programme für die bürgerlichen Eliten. Der Rest ist Projektkultur, wenn überhaupt. Diese „Alle“, für die veranstaltet wird, wollen in der Mehrzahl die geförderte Kultur nicht. Sie bedienen sich bei anderen Kulturangeboten, die nicht in der Gunst öffentlicher Förderung stehen. In der Musik beispielsweise interessieren sich mehr Menschen für Rock und Pop oder — Gott bewahre — für Schlager als für den Konzertbetrieb mit dem ewigen klassischen Repertoire. Die Oper ist ein Fest der bürgerlichen Stadtgesellschaft, ihr Betrieb kümmert wenige andere Menschen. Auch das Stadttheater erreicht eine Minderheit. Im Tanz ist die freie Szene weitaus interessanter als der Betrieb in öffentlichen Theatern. Für die Institutionen (das gilt ganz besonders vom öffentlichen Theater) ist das nicht weiter tragisch: sind satt und folgen mehr ihrer eigenen Logik als dass sie Aufgaben in der Gesellschaft erfüllen. 

Anders ist das bei Bibliotheken, ein wenig anders bei Museen und Ausstellungen, aber hier kommt es sehr auf das aktuelle Angebot an und generalisierende Aussagen lassen sich nicht machen. Auch gibt es wenig Projektkultur in diesen Sektoren — allerdings in den Museen sehr viel prekäre Selbständigkeit in der Vermittlung.

Ein Blick auf ein paar Tendenzen im Kulturkonsum mag verdeutlichen, was die Krise befeuert.

Änderung in der Demographie: Generation Pop

Zunächst gab es in den Jahrzehnten seit den 1960er Jahren eine gewaltige Erschütterung, die den in der Moderne schleichenden Prozess der Erosion bürgerlicher Werte und Verhaltensweisen erschütterte: die populären Musik. Viele Untersuchungen zeigen, dass der Kulturkonsum der „Generation Pop“ anders ist als der vorhergehender Generationen. Schlimmer noch für eine bürgerliche „Kultur für alle“, dass die Generation Pop weitgehend verloren ist. Oder sage ich besser: Sie richtet sich nicht an einem Verhaltensmuster aus, das bis dahin für selbstverständlich gehalten wurde, das Muster nämlich, dass mit dem Älterwerden und Arrivieren die bürgerlichen Teile der Gesellschaft sich schon wieder im Schoß der bürgerlichen Kultur finden würde. Im Gegenteil. Um es plakativ auszudrücken: Einmal Pop, immer Pop. Und für die Angebote der Hochkultur ist die „Generation Pop“, so die empirische Forschung, allenfalls „auch“, also als ein Zusatzangebot zu interessieren. 

Radikalisierung: Generation Smartphone

Ein weiterer massiver Einfluss auf den Kulturkonsum, den ich hier nennen möchte, ist das Smartphone. Für die „generation head-down“ oder Generation Smartphone, wie sie nicht ganz ohne kulturkritische Häme genannte wurde, hat sich der Bezug zwischen Präsenz und Ort radikal aufgelöst. Mit dem Smartphone ist man immer und überall präsent. Für dieser Generation werden hochkulturelle Angebote gleich zweimal schwierig: sie verpflichten zu einem Ort, und dann auch noch dazu, dass man sich für die Dauer des Kulturgenusses aus dem Strom der Kommunikation ausklinken muss. Positiv gesprochen, das Netz, die dauernde Kommunikation, und die meist kommerziell angebotene Ubiquität von „content“ ist ein weiterer Einfluss, der Parameter des Kulturkonsums verändert.

Generell: Digitalisierung

Massive Veränderungen im Kulturverhalten wirken sich auf die Rezeption geförderter Kultur aus. Besonders die Digitalisierung hat mächtigen Einfluss. Sie trifft nicht nur die geförderte Kultur, auch kommerzielle Angebote und Medien stehen unter Druck. Die Musikwirtschaft hat sich mit der Digitalisierung vollkommen umgewälzt. Von Vinyl zur CD zum Streaming. Life-Musik wurde fast zur einzigen Einkommensquelle, ihre Renaissance wurde durch Corona abgeschnitten.

Nun ist der Film dran. Er wandert vom Kino ins Netz, wird ortlos. Auch die Rezeption des Fernsehens ändert sich, die Bindung an die Zeitlichkeit des Programms löst sich auf. Kino als Geschäftsmodell wird problematisch. Eine Entwicklung, die an die der Musikwirtschaft erinnert, nur dass es hier kein „life“ gibt.

Auch die Kultur des geschriebenen Worts und das Geschäft mit dem Wort (Zeitungswesen, Buchmarkt) verändern sich radikal. Tageszeitungen sterben aus. Der content erscheint im Netz und ist dort wie in den anderen Sparten schwer zu kommerzialisieren. Teile des Buchmarkts werden ans Netz übergeben. Wissenschaftliche Literatur auf Papier wird die Ausnahme. Der Blog verdrängt die Kurzgeschichte, das Hörbuch den Roman, der Podcast die Reportage.  Überall führt das zu erheblichen wirtschaftlichen Veränderungen, schafft Verlierer und Gewinner. 

Da soll nur der geförderte Kulturbereich vollkommen unbetroffen sein? Da sollen die Theater so weitermachen können wie bisher? — Es fühlt sich weitgehend nicht betroffen, weil Theater die Bastion des Analogen und des Gleichzeitigen ist. Schauspielkunst braucht das Widerspiel von Bühne und Publikum. Oper wird nur im Opernhaus zum Gesamterlebnis. — Aber ist das wirklich so? Schon vor Jahren besuchte ich ein Kino in Birmingham, in dem live aus der Metropolitan Opera in New York übertragen wurde. Die Menschen haben Oper gefeiert, mit festlicher Kleidung, selbst mitgebrachtem Schaumwein in der Pause. — Der Film, dessen Kultur vom Internet gerade gefressen wird, auf der anderen Seite ist doch ein alter Beleg dafür, dass man auf den Kult des Theatersaales nicht zu stark hoffen darf.

Kultur kennt Epochenbrüche. Sie brachten jedes Mal neue Formen hervor und neue Leitmedien und drückten anderes in die Bedeutungslosigkeit. Der Buchdruck revolutionierte das Wissen. Der Telegraph das Zeitungswesen. Die Eisenbahn das Verhältnis von Raum und Zeit. Jedes Mal gab es neue Kulturformen und neue Wichtigkeit in der Kultur.

Angesichts der Umwälzungen, die die digitale Revolution bis in das Alltagsleben mit sich bringt, ist nicht vorstellbar, dass in der geförderten Kultur alles so bleibt wie es war. Oder anders gesagt: man kann alles so lassen, aber es wird immer mehr Geld brauchen.

Krise aktuell

Covid: Die Förderprogramme von Bund und Ländern

In den Covid-Jahren gab es von Bund und Ländern, teilweise auch in den Kommunen, erhebliche Stützungsprogramme für die geförderte Kultur, aber auch für kulturwirtschaftliche Betriebe, die von fallenden oder ausbleibenden Erträgen betroffen waren. Mehr als 10 Prozent der regulären öffentlichen Kulturförderung flossen zusätzlich in den Sektor. An einigen Stellen wurden Verluste überkompensiert, an anderen nicht ausreichend ausgeglichen. Genaue Zahlen wird es — wenn überhaupt — erst in der Zukunft geben, für gründliche Evaluation war angesichts der Dringlichkeit kaum Zeit. Oft habe ich beobachtet, dass die zusätzlichen Mittel in den Aufbau neuer Strukturen verwandt wurden, dies in der Hoffnung, dass es gelingen könne, solchen Mittelzufluss auch dauerhaft für die Etats der geförderten Kultur zu sichern. Solche Hoffnungen waren und sind illusorisch.

Angesichts des hohen Zeitdrucks bei der Implementierung der Covid-Stützungsprogramme wurden die gerade beschriebenen strukturellen Verschiebungen im Rezeptionsverhalten nicht berücksichtigt, vielmehr wurde vom Status quo ausgegangen, dieser durch die Covid-Förderung gestützt.

Zumindest das eine kann man sagen: dass das Publikum für die geförderte Kultur rar wird. Im Konzertsaal und in der Oper der sprichwörtliche Silbersee, im Theater sehr unterschiedliche Erfolg, Publikum zu finden und zu halten. Auch traditionell kommerziell organisierte Bereiche haben mit dem Wandel im Publikumsverhalten umzugehen und damit, dass auch das Geld durch die Digitalisierung woanders fließt als bisher.

Natürlich war Covid mit den Schließungen und dem erzwungenen Rückzug ins Private eine Zäsur. Aber diese Zäsur verstärkte Tendenzen, beschleunigte vielleicht, wo heute noch traditionelle Kulturbesucherinnen Angst haben, zurückzukommen. Aber es war eine Zäsur mit Ansage.

Also stellt sich die Frage, ob schon zu sehen ist, wie der Kulturbetrieb umzubauen ist. Und es geht eben nicht darum, „das Publikum“ nach der Pandemie „zurückzugewinnen“. Die Strukturveränderungen wirken weiter, es gibt kein „Zurück“.

Neue Krisen

Es ist eher damit zu rechnen, dass noch weitere Faktoren die Schwierigkeiten, oder neutraler gesagt: den Wandlungsprozess der Kultur beeinflussen werden.

Aktuell sind es die Faktoren Krieg, kommende Rezession, Energieknappheit etc., die auch die öffentlichen Finanzen erschüttern werden. Spürbar ist die Krise jetzt als Inflation. Im Moment wird noch versucht, über allerlei Hilfsprogramme die Folgen der Kostensteigerung von den Menschen fernzuhalten. Aber solche Programme haben den Nachteil, dass sie selbst die Inflation anheizen. Auch machen sie nicht zufrieden, denn jede Maßnahme schafft Benachteiligte. Auch stellt sich die Frage, wie man die Begünstigungen und Markteingriffe wieder loswird, ohne noch mehr Unzufriedenheit zu schaffen. Ohnehin: Die Ursachen der multiplen Krise sind nur mittelfristig zu bewältigen, wo sie überhaupt im Handlungsbereich nationaler Politik liegen.

Darüber und dahinter droht eine tiefere und langfristigere Krise. Sie wird noch nicht einmal dann vorbei sein, wenn es wider Erwarten gelingen sollte, sie wirksam zu bekämpfen. Das planetare Klimasystem ist träge, die Erwärmung des Planeten mit allen oft beschriebenen Folgen wird auch bei einem Stopp aller Emissionen noch Jahrzehnte weiterlaufen.

Veränderung

Was also tun? Ich komme zum letzten Teil meiner Ausführungen. 

Reformhemmnisse

Dass das System der Kulturförderung nicht zentral gesteuert werden kann, habe ich schon angesprochen. Jede Ebene im Kulturföderalismus hat ihr eigenes Handlungsfeld. Gleichwohl ist festzuhalten, dass der Kulturföderalismus ein hohes Gut ist, Kulturverbände neigen zwar dazu, immer häufiger nach Bundesmitteln zu rufen und mit solchen Forderungen zur Delegitimierung und Erosion des Föderalismus beizutragen, wenn nur der finanzielle Spielraum aktuell größer wird. Aber in der Dezentralität liegt eine Stärke. Er ist, wenn man so möchte, eine Suchmaschine für die besten aus unterschiedlichen kulturpolitische Problemlösungen.

Vor allem auf kommunaler Ebene müssen kommunale Antworten gefunden werden, denn dort ist potentiell der größte Bewegungsspielraum. Aber es ist auch absehbar, dass die kommunalen Haushalte wahrscheinlich in naher Zukunft enger werden oder auch, dass die kommunalen Aufgaben über diese Haushalte hinauswachsen.

Die Gestaltung der sozialen Sicherung wiederum ist eine zentrale Aufgabe, hier haben die Kommunen keine eigenen Aufgaben oder Spielräume. Aber immer wieder tragen sie Folgelasten aus zentralen sozialpolitischen Entscheidungen. Erste zarte Anzeichen gibt es immerhin, dass die spezifische soziale Lage von Selbständigen mit geringem Einkommen in den Blick der Sozialpolitik gerät.

Ehrlich machen — Resilienz

Manche der Institutionen oder auch der Programme in der Kultur sind aus der Zeit gefallen, manche überdehnt, manche beides. Hier gilt es: Kulturpolitik auf jeder Ebene muss sich ehrlich machen. 

Wichtig ist natürlich die Frage: Was kann die Stadt sich leisten. Noch wichtiger aber ist die Frage: Wie will sie auf die Veränderungen im Rezeptionsverhalten reagieren? Was und wen will sie mit geförderten kulturellen Angeboten erreichen? Diese Frage erfordert, dass Kulturpolitik den Mut aufbringt, sich inhaltlich zu positionieren. Dann muss sie die Konflikte durchzuhalten, die aus solchen Entscheidungen erwachsen. Man kann nicht gleichzeitig alles festhalten und etwas ändern. — Keine Lösung ist es jedenfalls, bei einem engen Haushalt überall ein wenig zu kürzen. Das führt dazu, dass es allen schlecht geht und dass auch kein Ziel, keine Profilierung mehr erreichbar ist. — Allerdings: dies war der politisch einfachste Weg und er ist in der Vergangenheit sehr oft begangen worden.

Noch eine sehr allgemeine und sich von selbst verstehende Aussage: Gerade die großen Institutionen müssen besonders kritisch betrachtet werden. Einmal ist hier die Chance am größten, etwas zu finden, was als Ballast abgeworfen werden kann. Zum anderen sind die kleinen, randständigen kulturellen Einrichtungen, Initiativen, Betriebe meist innovativer und vor allem künstlerisch und wirtschaftlich weitaus flexibler. Also eher hier schützen als in den großen Instituten.

Die kleinen Strukturen waren und sind besonders von der Projektitis betroffen. Diese sollten durch Fördersysteme ersetzt werden, in denen künstlerische und kulturelle Aktivitäten wirtschaftlich auskömmlich möglich sind, aber eben auch der Erfolgsdruck bestehen bleibt.

Am Beispiel der Darstellenden Künste: Warum nicht vorhandene Spielstätten so mit Geld ausstatten, dass sie Aufführungen von außen einkaufen und auskömmlich bezahlen. Das würde dem freien Theater helfen. Über die Auswahl von Produktionen beim Einkauf werden unternehmerische Entscheidungen der freien Theater honoriert oder eben nicht. — So funktioniert das gesamte Theatersystem außerhalb des deutschen Sprachraums. Ein solches Theatersystem ist weitaus resilienter als das der öffentlichen Theater in Deutschland, denn in ihnen besteht keine Resilienz, sondern jede Verwerfung erhöht nur den Druck auf öffentliche Kassen, neue Löcher zu stopfen.

Eine kritische Musterung gerade der großen institutionellen Strukturen erfordert eine zielfeste und selbstbewusste Kulturpolitik. Eine, die weiß, was sie will.

Kunstfreiheit

Ich male hier am Bild einer Kulturpolitik, die gestaltet. Darf sie das? Soll die Kulturpolitik nicht Geld geben und sich dann herauszuhalten? Eine solche Sicht auf die Aufgabe von Kulturpolitik wird mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit begründet. Ist Kunstfreiheit so richtig verstanden?

Es liegt hier ein Missverständnis vor. Kunst, so sagt unsere Verfassung, ist in ihren Äußerungen frei. Das ist ein hohes Rechtsgut und gehört bedingungslos verteidigt. Auch wenn es manchmal wehtut. Aber die Kunstfreiheit ist ein Abwehrrecht.

Dort wo ein öffentlicher Auftrag ausgesprochen wird, bezieht er sich in der Regel nicht auf Kunst, sondern auf ein öffentliches oder meritorisches Gut. Und wenn die öffentliche Hand ein solches Gut bestellt oder kauft, dann darf sie bestimmen, was sie bestellt und was sie mit dem bestellten Gut erreicht werden soll. Plakativ: Kunst ist frei, zweifellos. Die Freiheit der Kunstausübung ist nicht die Freiheit, mit öffentlichen Mitteln zu tun, was man möchte. Sondern Kunstfreiheit ist ein Schutz des Werkes vor Zensur und Verbot. Kunstfreiheit ist kein Förderanspruch, auch nicht, wenn einige Verbände in der Kulturpolitik das gern so hätten. Also darf Kulturpolitik Ziele setzen.

Am Beispiel des Theaters: Natürlich darf Kulturpolitik in eine Inszenierung am Theater nicht eingreifen. Das deckt die Kunstfreiheit. Aber sie darf einem Theaterbetrieb den Rahmen setzen, den Auftrag erteilen, welches Genre sie für welches Publikum in welcher Intensität anbieten soll. Und auch, wie die Produktion erfolgen soll, mit eigenem Ensemble und Werkstätten, durch Einkauf im Gastspielmarkt, durch Zusammenarbeit mit anderen.

Bildung ist die eigentliche Aufgabe von Kulturpolitik

Ob Kulturpolitik ihre Gestaltungsräume nutzen wird? Die jetzigen Tendenzen lassen mich zweifeln. Auch die Kulturpolitik spannt lieber Schutzschirme als sich mit veränderten Realitäten auseinanderzusetzen.

Mut zur Zukunft ist kaum erkennbar: alle wollen Sozialismus, die Übernahme von Verantwortung durch den Staat. Niemand will aus der Komfortzone heraus.

Kulturpolitik sollte sich immer bewusst sein, dass sie nur Kulturförderpolitik ist und damit ihre Reichweite begrenzt. Viele Bereiche von Kunstproduktion und Kulturvermittlung finden außerhalb der öffentlichen Förderhorizonte statt und kommen — wenn nicht gerade Pandemie ist — recht gut zurecht. Welche Bereiche unter den Schirm öffentlicher Förderung sind und welche dem kalten Regen des Marktes ausgesetzt bleiben, dafür legt Kulturpolitik bisher keine Rechenschaft ab. Vielmehr operiert sie mit der überholten Dichotomie von Kunst und Kommerz und führt die kulturelle Segregation damit fort, allen Bekenntnissen zu sozialer Diversität zum Trotz. Geförderte Kultur bleibt ein Elitenprojekt, das schmale Segmente der Gesellschaft bedient. 

Wenn man den Fokus von Kulturförderung verschiebt, weg von der Bespaßung der Eliten und hin zur Erfüllung von Bildungsaufgaben, kann ein konsistentes und auch resilientes Förderprogramm entstehen. Zweck von Bildung ist die Entwicklung von Kompetenzen: Kompetenz ist die Fähigkeit, sich im sozialen Umfeld zu bewegen, Aufgaben zu erkennen und zu erfüllen. Dazu benötigt das Individuum Referenzsysteme, Interpretationsgabe und die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, andere Meinungen und Sichtweisen als Bereicherung statt als Bedrohung anzusehen. Das ist ein kulturelles Thema. Und es handelt sich um lauter Dinge, die Schule vermitteln könnte – mit Kultur. 

Schule wäre die privilegierte Schnittstelle zwischen allen Schichten der Gesellschaft und dem Kultursystem. Damit diese Schnittstelle funktioniert, braucht es weniger große Institutionen und mehr Hilfe für die Strukturen der kulturellen Selbstorganisation. Lokale Kultur schafft Möglichkeiten der Begegnung und kultureller Selbsttätigkeit. Solche Selbsttätigkeit zu fördern, das wäre auch eine echte Einlösung des kulturpolitischen Versprechens einer „Kultur für alle“. Kultur vor Ort, Soziokultur und kleine Strukturen müssen gestärkt werden. Auch politisch ist dies eine wichtige Aufgabe: Die heterogene Zivilgesellschaft organisiert sich im Nahbereich und braucht Orte des Austauschs, wo sie sich selber einbringen und erfahren kann.


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